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Gabor Terebess
BRUCH

Die Kunst des Ausschusses
Deutsche Übersetzung: László Erős

Englische Version (Ceramics Monthly, Volume 29, Number 2, February 1981, pp 27-31.)
Ungarische Version (Mozgó Világ, VI. évfolyam, 1980. 9. szám, 108-112. oldal)

 

Eine Tasse ist zerbrochen. Ich liess sie fallen. Verärgert über meine Ungeschicklichkeit beginne ich, die Scherben des unbrauchbar gewordenen Geschirrs aufzusammeln und in den Mülleimer zu werfen. Während der Betrachtung der weit zerstreuten Stücke überrasche ich mich dabei, statt der (angebrachten) Gewissensbisse die Szene zu bewundern. Die zerbrochene Tasse kann ja jederzeit mit einem intakten Stück der Serie ersetzt werden, diese Scherben sind dagegen unersetzlich. Ihre Formen, ihre Anordnung sind einmalig, unwiederbringlich.

Wäre dieser kleine Unfall gefilmt gewesen, hätte ich jetzt ein Dokument. So kann ich nur noch den Ausgang fotografieren. Oder warum könnte die Tasse nicht wie sie ist, in Scherben aufbewahrt werden? So würde sie wenigstens das stattgefundene Ereignis plastisch festhalten. Dieses Tatmaterial könnte ich sogar Dokumentarkeramik nennen, denn: die Form des fertig gefundenen Materials zu erkennen -das ist ja auch das Geheimnis der Soziographie, der dokumentarischen Literatur.

Natürlich hatte ich gar nicht vor, irgendein gebrochenes Dokument herzustellen. Mit der unerwarteten, fehlerhaften Geste machte ich jedoch nicht nur ein brauchbares Geschirr kaputt, ich schuf auch etwas: einen in Stücke zerfallenen Keramikgegenstand. Wider meinem Willen. Das ist mein negatives Kunstwerk. Im materiellen Sinne ist es unbrauchbar, genauso wie ein unreifer oder wurmstichiger oder fauler Apfel, im geistigen Sinne ist das jedoch gar nicht der Fall. Ist denn die wahre Keramik(kunst) wirklich diejenige, die unseren Triumph über das Material, die fachgemässe Verwirklichung unserer Vorstellungen laut verkündet und dabei die Spuren unserer Fehltritte, Stürze zusammen mit dem Mist in der Grube verschüttet?

Keramik ist gewiss zerbrechlich. Warum könnte dieser Nachteil nicht in einen Vorteil verwandelt werden und die Zerbrechlickeit bei der Formgebung genauso selbstverständlich, wie die Formung auf der Töpferscheibe, durch Modellierung oder Gusstechnik, verwendet werden? Warum könnte das Rohmaterial der Keramik nicht wie ein beliebiges keramisches Material, egal in welchem Zustand und welcher Qualität, ausnahmslos und bedingungslos sein? Selbst das ausgebrannte Material, die „fertige“ Keramik? Sie kann schartig gemacht, zerbrochen, geschliffen, geklebt, wieder-(und über-)gebrannt werden. Sie kann jederzeit weitergeformt werden. „Nichts hat eine endgültige Form“ , sagt mir jede zerbrochene Keramik ins Gesicht (und alle kommen ja auch in den Mülleimer), sowie: das Ganze wird durch den Teil, das Vollständige durch das Fragment, das Anwesende durch das Fehlende dazu gemacht, was es ist.

Der Bruch war schon immer ein Tabu in der Kunst der Keramik. Es war vielleicht der Verlust des Gebrauchswerts, der uns abschreckte und in unseren Augen den Wert des Kunstwerkes aus dem gleichen Material auch herabsetzte. Die Museen wachen freilich ängstlich über die bei Ausgrabungen gefundenen alten und seltenen Geschirrscherben, auch in den ehemaligen Bauernhaushalten wurde,ob aus Sparsamkeit oder aus Anhänglichkeit, immer das zusammengestückelte Irdengeschirr geschätzt, weiter gebraucht. Der Milchtopf mit einem Loch im Boden konnte zum Giessen, der gesprungene Kochtopf zum Speichern, der Teller mit grossen Scharten als Trinkgefäss für Hunde, Katzen, der zerbrochene als Kinderspielzeug verwendet werden. Die Ziegelscherben dienten als Bindematerial beim Lehmen der Wand und beim Ofenbau. Aber nur als die Regel bestätigende Ausnahme kommt es vor, dass die mit Goldlack verklebte Teetasse des Japaners Hon'ami Kóecu (1558-1637) oder die mit Epoxyharz verklebte Schale des Amerikaners Peter Voulkos (geb. 1924) als gleichwertig mit den unversehrten betrachtet werden. Und nur ausserhalb der Kunst der Keramik als Teil von Kunstwerken mit gemischter Technik, mit anderen Materialien kombiniert, begegnet man manchmal einem zerbrochenen Teller (Julian Schnabel), einem Napf und Unterteller (Martha Holt), einer Kachel (Jean-Pierre Raynaud).

Ich ergreife einen Hammer und stürze hinunter auf die Strasse. Ich brauche nicht weit zu laufen um auf den ersten Stapel Ziegelsteine zu stossen.

In meiner Kindheit bewunderte ich des öfteren, wie unser Nachbar, der Maurermeister, einen Ziegel entzweibrach: zunächst klopfte er an ihm mit der Finne des Hammers tüchtig herum, dann legte er ihn in seine Hand und haute mit dem Nacken hin. Der Ziegel sprang mehr oder weniger an der Stelle, welche er ausgesucht hatte. Ich dagegen will nicht fachgemäss brechen, mit keinem Mauerer konkurrieren, ich benötige an Fachkenntnissen um nichts mehr als über die ein jeder sofort verfügt. Ich machte mich daran zu sehen, wie es sein wird und nicht daran, zu sehen ,was ich mir vorstellte.

Die blindlings gebrochene Keramik ist eine Keramik ohne Handwerk, ihre Technologie ist der Mangel an Technologie,- das Vergessen sowohl der All- als auch der Unwissenheit, -es stösst Fachkenntnisse von sich weg.

Die äusseren und inneren Oberflächen eines Hohlziegels sind glatt, die Ebenen regelmässig: er bewahrt das Benehmen der mechanisch durchgepressten, dann mit dem Schneidedraht zerstückelten, nassen Tonerde. Ich könnte auch sagen, er heuchelt immer noch sein entfremdetes Ich vor, genauso wie sich das in Form gefrorene Eis für Wasser ausgibt. Der Bruch verrät, entlarvt seine im Feuer umgewandelte Natur. Er verstümmelt nicht nur den Quader des Ziegels, sondern zerrüttet zur gleichen Zeit das negative Formensystem der Löcher. Er kann freilich das System selbst nicht verändern. Er kann es nur in einen Torso verwandeln, bricht die Struktur der Parallelen, der Ziegel kann unmöglich bestimmungsgemäss funktionieren. Da der Bruch das ursprüngliche Werk als Rohstoff betrachtet, wird der Wert der zerbrochenen Keramik - falls es einen gibt - nicht vom ursprünglichen Werk bestimmt. Jenes ist nämlich kaputt.

Die durch Zerschlagen-Fallenlassen geformte Scherbe ist unerbittlich spröd und zur gleichen Zeit unberechenbar launisch - sie ist nicht geschaffen, um unseren Erwartungen zu entsprechen und nur teilweise geneigt, unsere Gesten wiederzuspiegeln. Sie verfügt über einen eigenen, fertigen Stil, übernimmt nicht den unseren, es sei denn, dass wir sie so weit zerkleinern, dass nichts mehr auf ihr „Vorleben“ hinweist. Aber lassen wir sie zu Worte kommen, machen wir dem Kommerziellen ein Zugeständnis, flirten wir mit dem Kitsch, lassen wir uns zur Grobkeramik herab, widersprechen wir der Volkstöpferei. Die unvermeidbare Zweiheit des ursprünglichen und des aus ihm entstandenen Werkes könnte aus roher Tonerde nur künstlich hergestellt werden. Dort fangen wir immer mit einem „unbeschriebenem Blatt“ an, müssen eine neue Welt aus der formlosen Masse schaffen, hier können wir einen Dialog mit der (bestehenden) Welt führen.

Der Bruch der Tonware ist irreparabel. Das Rohmaterial, solange es plastisch ist, kann immer verändert, korrigiert, verbessert werden. Das Brechen dagegen ist ein irreversibler Prozess. Man kann lediglich weitermachen, die Scherben zu noch kleineren Splittern zerschlagen (es ist ja unmöglich, noch einmal, anderswie zu brechen), bis sie zu Staub zermalmt sind. Weiter nichts. Der während Millionen von Jahren zu Staub verwitterte Stein, der in der Keramik für einen Augenblick wieder zu Stein gebrannt wurde, ist wieder Staub.

Es ist gar nicht so leicht, die Scherben der Keramikproduktion und des -verbrauchs verschwinden zu lassen: gebrochene Ziegel können höchstens gemahlen für Tennnisplätze verwendet werden, Porzellanscherben kann man in die Masse zurückmahlen - es lohnt sich aber keinesfalls, sie, ähnlich wie altes Eisen, Altpapier oder alte Textilien zu sammeln. Bei Abbruch- und Baustellen, an allen Ecken stösst man in der ganzen Stadt auf sie- wir selbst vermehren sie. Man braucht Keramik zum Zerbrechen, Zerschlagen gar nicht zu suchen; man kann sie unmöglich nicht bemerken. Es ist überflüssig, Tonerde dafür zu brennen - sie steht in Fülle zur Verfügung.

Es kann eine bizarre Unterhaltung während unseres Sonntagsspaziergangs sein, im Mist und Schutt, im Müllder Voll- und Hohlziegel, der Wand- und Bodenbelege, der Dachziegelscherben herumzuwühlen/bohren. Ja, wir leben in dieser Umgebung, diese Gegenstände sind die Denkmäler aus dem Freilichtmuseum des späten 20. Jahrhunderts. Sie könnten sogar ins Museum gebracht werden - um zukünftige Ausgrabungen zu ersparen. Sie verraten mehr über das Zeitalter, als unsere heutige Keramikkunst, die sich ereifert, das Zeitalter auszudrücken und uns dabei entweder die Nostalgie des der Natur entfremdeten Menschen (organische Formen, Kot, Erde, Gesteine, Baumstämme, Blätter, Knospen, Zellen) auftischt, oder die nostalgische Sehnsucht nach Ordnung (geometrische Formen, Drehkörper)- die wüste Ordnung des Menschen als Gegensatz zu den Zufälligkeiten der Natur anbietet. Die Asphalt- und Betonutopie scheint sich jedoch immer weiter auszubreiten und es ist unmöglich, zur Natur zurückzukehren. (Wo ist sie?) In den wie die Krebskrankheit wuchernden Städten der Überindustrialisierung, des ungeräumten Schmutzes, des unverdauten Abfalls, hier und jetzt, kann derjenige, der mit offenen Augen herumgeht, ein Keramiker werden, bevor er Keramiker ist.

Egal ob gebrochen wird oder nicht, gebrochene Keramik gibt es immer in Fülle (wie der Brand, so ist auch das Brechen überflüssig). Der Bruch macht sowieso nichts weiter, als dass er die Linien der bei der Formung, Trocknung und beim Brand entstandenen Spannungen, Haarrisse sichtbar macht, freilegt.

Wenn man weitersucht, nunmehr nicht nur bei Abriss- und Baustellen, sondern auch um Schuttberge der Ziegel- und Porzellanfabriken, im Kram der Keramikwerkstätten, Töpferhöfe herum, findet man noch ein Missgeschöpf: die überbrannte Keramik.

Holzschnitzereien, Hausteine stellen die besiegte Natur dar; ein zusammengeschmolzener Ziegelhaufen entlarvt den besiegten Menschen. Das Material der verworfenen oder beschädigten Rohware kann wieder verwendet, die untergebrannte oder fehlerhaft glasierte Ware wiedergebrannt werden; die gebrochene oder übergebrannte Tonware ist dagegen endgültiger, unkorrigierbarer Ausschuss. Die Kunst des Ausschusses zerstört nichts, hebt nur empor, was von der Industriegesellschaft weggeschmissen, abgestossen, vertuscht wird. Zwischen dem positiven Weg des Schaffens und dem negativen Prozess der Zerstörung ist sie Zero, der Mittelweg, der Nullweg.

Es ist die Hervorhebung, die den provokatorisch als Kunstwerk ausgestellten alltäglichen Gegenstand (zum Beispiel die Ready-Mades von Duchamp) von der Massenproduktion ablöst und ihn zum Einzelgegenstand macht. Der Ausschuss dagegen ist ein im Unfall kaputt gewordener alltäglicher Gegenstand, er ist krankhaft und irrational, aus sich selbst ein Einzelgegenstand, ob hervorgehoben oder nicht. Er kann nur zu einem Beispiel und nicht zu einem Schema werden. Sein Erfolg beruht auf der Erfolglosigkeit, denn im Falle des Erfolgs wäre er ein alltäglicher Seriengegenstand geblieben. Die misslungenen Werke können aus unseren Wettbewerben, Ausstellungen, Publikationen, dem Handel, nicht aber aus unserem Leben durch Preisrichten verwiesen werden. Wenn der Arbeiter zufällig die Zulässigkeitsgrenzen überschreitet und nicht mehr dasselbe Produkt herstellt, wiederholt er sich nicht mehr, kopiert auch nicht, sondern fängt, statt zu produzieren, zu schaffen an. Der Unfall macht die Ware zum Kunstwerk (kaputt?).

„Die bildende Kunst nahm im Zeitalter der Reproduzierbarkeit ein Ende“, stellt Walter Benjamin fest, aber es ist gerade die technische Reproduzierbarkeit, die der Kunst des Ausschusses einen fertilen Nährboden anbietet. Der Künstler ging bis jetzt lediglich in eine Fabrik, um von den Kunstgriffen der modernen Industrietechnologie Gebrauch zu machen, obwohl die Fehlgriffe der Industrietechnologie für ihn auch nicht weniger aufschlussreich sind. Ähnlich wie bei der Ausführung sind Künstler und Macher auch hier getrennt. Es handelt sich aber um eine verkehrte Situation. Die Keramik ist fertig, bevor der Keramiker darüber erfährt. Das könnte als „Kunst nach der Schaffung“ bezeichnet werden. Der Schaden der Industrie bedeutet hier den Nutzen der Kunst (und gerade das ausgezeichnete Serienprodukt ist der Ausschuss der Kunst).

Der Ausschuss ist die Widerlegung der Behauptung, dass eine neue Form nur vom Schreibtisch des Designers stammen könne. Der Industriedesigner ist lediglich der Wächter der offiziellen Änderungen. Er stellt eine Widerlegung der Behauptung dar, dass nur ein guter Handwerker ein guter Künstler sein könnte. (Der Erbe des Handwerkers ist sowieso nicht der Kunstgewerbler; der Facharbeiter, der Ingenieur, der Designer sind das. So wie früher die Töpfer, sind es jetzt sie, die die Gebrauchsgegenstände dem allgemeinen Geschmack entsprechend herstellen.) Beim Ausschuss kann es nicht vorkommen, dass die Fälschung, die Nachempfindung, die Plattheit des Denkens durch Schulung oder aber durch eine Fachbravour verhehlt werden. Vor dem Ausschuss kann vergeblich Rechenschaft über die schöpferische Selbstausdrückung gefordert werden; es ist die Attitüde des Finders, die beachtet werden muss: er ist es, der seine Schulung aufgibt, die Werkstatt/das Atelier verlässt; der nicht isoliert, unter „experimentellen Bedingungen“ arbeitet, sondern in seiner gegebenen, industriellen Umgebung auch bemerkt, was die Leistungsgesellschaft vergessen will; er konstruiert nicht, er entdeckt; er sucht seine Freude nicht an verfeinerten, ziselierten Gegenständen, er nimmt auch das Verworfene und zwar wie es ist an; wo alles Ware wurde, aast er nach unnützen Sachen im Misthaufen und horcht auf die Worte eines Gegenstandes, der nicht nur kostenlos, sondern für alle lästig ist.

„Was ist die wertvollste Sache auf der Welt?“, fragt der auch von Salinger zitierte Mönch.
„Eine tote Katze“, antwortet der Zen Meister.
„Warum?“
„Weil sie von niemandem für wertvoll gehalten wird.“

Es ist nicht die Kunst, die den Menschen, sondern der Mensch, der die Kunst gross macht. Das Kunstwerk ist nur Schutt an seinem Wege und er geht an ihm immer vorbei.

Der Ausschuss ist ein von Menschenhand berührter Gegenstand, der aber seinen ursprünglichen Sinn verloren hat. Er hat meistens kein Alter, keine Patina, keine Atmosphäre, die andere Zeiten zu beschwören vermag. Er ist nur die Aufbewahrung eines Unfalls, deshalb mangelt es ihm an menschlicher Gaukelei, auch an der Spekulation, er kann nicht schwindeln oder lügen. Er steht für nichts anderes, auch wenn die gescheiterte Absicht des Menschen bei seinem Anblick hervorschimmert. Der Ausschuss ist die Vergegenständlichung unserer vergeblichen Anstrengung, verschwendeten Energie, vergeudeten Zeit und kann mit einer wegwerfenden Handbewegung erledigt werden, bis - wie Dürrenmatt in seiner Erzählung „Die Panne“ schreibt - „eine Schraube sich lockert, eine Spule in Unordnung gerät, ein Taster falsch reagiert, Weltuntergang aus technischem Kurzschluss, Fehlschaltung. So droht kein Gott mehr, keine Gerechtigkeit, kein Fatum wie in der fünften Symphonie, sondern Verkehrsunfälle, Deichbrüche infolge Fehlkonstruktion, Explosion einer Atombombenfabrik, hervorgerufen durch einen zerstreuten Laboranten, falsch eingestellte Brutmaschinen.“

Der Ausschuss ist die Metapher unseres Zeitalters. Er ist das Modell der Entgleisung, die jederzeit erfolgen kann.