Jaeger, Georgette. Han Shan: ermite taoïste, bouddhiste, zen. Bruxelles: Thanh-Long, c1985. 101 p.
Pimpaneau, Jacques. Le Clodo du Dharma: 25 poemes de Han-shan. Paris, 1975
Han Shan - Merveilleux, le chemin de Han Shan. Trad. par Cheng Wing-fun et Hervé Collet, Moundarren, Millemont (Yvelines), 1992, 122 p.
Einführung von Stephan Schuhmacher
Vorwort zum Hanshan shi, von Lü Qiuyin, Präfekt von Taizhan
Nr. 1
Vater und Mutter hinterließen ein stattliches Erbe;
Hier auf dem Lande kennt man keinen Neid.
Mein Weib bei der Arbeit, der Webstuhl geht Klipp-Klapp;
Die Kinder im Spiel, Münder plappern und plappern.
Ein Händeklatschen entfacht der Blüten Tanz;
Das Kinn gestützt, lausche ich Vogel-Liedern.
Wer käme wohl, mir seine Achtung zu erweisen?
Der Holzfäller schaut ab und zu vorbei.
Nr. 2
Ein festes Strohdach, hier wohnt ein Mann vom Lande;
Nur selten sieht man Pferd und Wagen vor dem Tor.
Die dunklen Wälder laden nur Vogelscharen ein;
Das breite Tal birgt Fische tief im Grund.
Zum Beerensammeln führe ich die Kinder aus,
Pflüge das Feld am Hang mit meiner Frau.
Drinnen im Haus, was habe ich da?
Allein ein Bettgestell, mit Büchern hoch beladen.
Nr. 3
Seht, wie die Mandarinenten die Nacht verbringen –
Ein Männchen und ein Weibchen kuscheln sich zusammen.
Sie picken Blütenblätter, teilen jeden Bissen,
Putzen sich gegenseitig das Gefieder.
Sie steigen sich umspielend auf in duftige Wolken,
Und kehren zum Schlafen ans steinige Ufer zurück.
Liebevoll von Natur, leben sie stets in Freuden
Und trachten nicht, den Teich des Phönixpaares einzunehmen.
Nr. 4
Im sechsten Monat, wenn die Bauern vor der Hitze fliehen –
Wer freut sich ein Maß Wein mit mir zu teilen?
Ich habe buntgemischte Beeren aufgetischt,
Doch niemand lagert um den Weinkrug außer mir.
Statt einer Matte brauch ich eine Lage Stroh,
Bananenblätter dienen mir als Teller.
Sitze ich dann im Rausch, das Kinn gestützt,
Ist der Sumeru klein wie ein Armbrustgeschoß.
Nr. 5
Die Pflaumenblüten würden gern den Sommer erleben,
Doch Wind und Monde verdrängen sie ohne Geduld.
Bei allem Suchen nach einem Han-Zeit-Menschen,
Könntest du doch nicht einen einzigen mehr finden.
So welken und fallen die Blüten Tag für Tag,
Jahr über Jahr gehen Menschen in die Verwandlung ein.
Und dort, wo heute Staubwolken aufwirbeln,
Erstreckte sich in alter Zeit der Ozean.
Nr. 6
Mädchen mit feingeschwungenen Brauen in der Stadt,
Es klirren und klingeln die schellenverzierten Gürtel.
Vor einem Flor von Blüten pfeifen Papageien,
Und Lauten klingen unterm vollen Mond.
Einer Ballade Nachklang weilt drei Monate,
Zehntausend Gaffer sammeln sich zu kurzem Tanz.
Doch kann dies Treiben sicherlich nicht ewig dauern,
Beim ersten Frost vergeht die Lotosblüte.
Nr. 7
Sie sagte: Meine Heimat ist Handan,
Man hört’s am Singsang meiner Stimme.
Komm doch mit mir in mein verschwiegenes Gemach,
Die alten Lieder dir zu singen, dauert lang.
Du bist betrunken, sprich nicht vom Nachhausegehen,
Bleib hier, die Sonne steht noch nicht im Mittag.
In meiner Schlafkammer ist eine buntgestickte Decke
Gebreitet über ein silberverziertes Bett.
Nr. 8
Im dritten Monat, wenn die Seidenraupen noch ganz klein,
Kommen die jungen Mädchen her zum Blumenpflücken.
Entlang der Mauer machen sie Jagd auf Schmetterlinge,
Drunten am Teich werfen sie Steine nach dem Frosch.
Sie sammeln Pflaumen in ihre weiten Gaze-Ärmel,
Graben mit goldnen Haarnadeln die Bambussprosse aus.
Über Geschmack mag man sich endlos streiten,
Doch hier ist’s schöner als bei mir zu Haus.
Nr. 9
Über den Blüten singt der goldene Pirol
Guan! Guan! sein herzergreifend Lied.
Ein schönes Mädchen, Antlitz wie von heller Jade,
Stimmt dazu ein mit ihrer Laute Klang.
So werden beide ihres Spiels nicht müde,
Voll zärtlicher Gefühle ist die Jugendzeit.
Die Blüten aber fallen und die Vögel fliegen fort,
Noch eh der Herbstwind weht, vergießt sie Tränen.
Nr. 10
Nördlich der Stadt lebte Gevatter Zhong,
In seinem Haus gab es stets reichlich Fleisch und Wein.
Damals, als seine Frau gestorben ist,
War seine Halle berstend voll von Trauergästen.
Nun ist der Alte selbst dahingegangen,
Nicht ein Mensch kam vorbei, ihn zu beweinen.
Die seine Becher leerten und seinen Braten verschlangen,
Was haben sie doch für ein kaltes Herz!
Nr. 11
Zu Zeiten, da ich noch auf dem Dorfe lebte,
Pries mich dort jedermann als Ohnegleichen.
Doch als ich gestern in die Hauptstadt ging,
Da sahen selbst die Hunde mich schief an.
Lästert dort einer über meine engen Hosen,
Findet der nächste, meine Jacke sei zu lang.
Stecht ihr dem Sperber beide Augen aus,
Flattern wir Spatzen erhaben und würdig umher.
Nr. 12
Hast du Wein, dann hole mich zum Trinken
Wenn ich Fleisch habe, lad ich dich zum Mahle
Über kurz oder lang müssen wir alle zu den Gelben Quellen
Drum wollen wir uns Mühe geben so lang wir jung und stark
Juwelbesetzte Gürtel glitzern nur eine kurze Zeit
Goldene Haarnadeln bleiben nicht lange schmuck
Gevatter Chang und auch die alte Dame Cheng
Verschwanden einst und niemand hörte mehr von ihnen
Nr. 13
Der Edle Tung, obwohl noch jung an Jahren
Ging ein und aus am Kaiserhof
Vom Gelb der Gänsedaunen war sein Hemd
Seine Gestalt wie ein Gemälde anzusehen
Ritt stets ein Pferd mit weißen Läufen
Schnell wie der Wind wirbelt es auf den roten Staub
Am Straßenrand die Leute blickten ihm alle nach-
Aus welchem Haus mag dieser Mensch wohl stammen?
Nr. 14
Gehts um Berichte und Beschlüsse bin ich nicht gerade unbedarft
Warum erhalt ich niemals eine gute Stelle?
Der Auswahlkommisar macht mir das Leben schwer
Sucht ständig irgendwelche Fehler aufzudecken-
Es ist wohl alles eine Angelegenheit des Schicksals
Drum will ich auch in diesem Jahr die Prüfungen versuchen
Ein blinder Junge, der auf des Spatzen Auge zielt
Könnte vielleicht aus Zufall einmal treffen
Nr. 15
Gibts was zu freuen- freue dich daran
Wir dürfen wahrlich keine Zeit verschwenden!
Man sagt, das Menschenleben dauert hundert Jahr
Doch wer erlebt schon ganze dreißigtausend Tage?
Wir sind in dieser Welt nur einen Augenblick
Verschwende ihn doch nicht mit Streitereien um Geld
Am Schluß des Klassikers der Kindespflicht
Da kannst du alles über dein Begräbnis lesen
Nr. 16
Es gibt wohl Menschen sparsamer Natur
Doch Knickerigkeit entspricht nicht meiner Art
Mein dünnes Kleid vom vielen Tanzen durchgewetzt
Der Weinkrug leer weil ich beim Singen gerne einen hebe
Seht zu, daß ihr euch stets den Bauch vollschlagen könnt
Und rennt euch nicht die Beine ab-
Wenn erst Unkraut durch euren Schädel sprießt
Möchtet ihrs sonst bereuen
Nr. 17
Was für ein wohlerzogener stattlicher Bursche
Und wie belesen er in Klassikern und in Geschichte ist!
Mit "Herr Professor" redet alle Welt ihn an
Ein jeder spricht von ihm als dem "Gelehrten"
Zu Amt und Rang hat ers noch nicht gebracht
Versteht aufs Pflügen sich genauso wenig
Sein Winterkleid ist ein zerfetztes Leinenhemd
Er hat sich wohl mit seinen Büchern selbst betrogen
Nr. 18
Nicht einmal hundert Jahre lebt der Mensch
Doch hegt er ständig Kummer wie für tausend Jahre
Von eigenen Gebrechen kaum erholt
Beladen Kind und Enkel ihn mit Sorgen
Jetzt muß er nach den Reissetzlingen sehen
Sich dann noch um die Maulbeerbäume kümmern-
Geh doch die Wägsteine ins Ostmeer werfen
Wenn sie zum Grund gesunken erst, weißt du was Frieden ist
Nr. 19
Schriften im Gürtel ging ich als Kind zum Pflügen
Lebte von Anfang bei meinem älteren Bruder
Da jedermann was an mir auszusetzen hatte
Zu allem Übel noch die eigene Frau mich mied
Zerriß ich alle Band dieser Welt des Staubs
Bin ständig auf der Walze und lese was ich mag
Wer von euch könnte eine Kelle Wasser leihen
Dem Fisch gefangen in der Wagenspur?
Nr. 20
Auf Wanderschaft kam ich zu einem alten Friedhof-
Ich weine bitterlich über Tote und Lebende:
Zerstörte Gräber, die gelben Totenkisten aufgebrochen
In den durchlöcherten Särgen sieht man weiße Gebeine
Die Urnen wurden alle umgestürzt
Aus den Trümmern sind Haarnadeln und Amtstafeln verschwunden-
Auf einmal fährt ein Windstoß drein
Und Staub und Asche wirbeln durcheinander
Nr. 21
Die Reichen feierten in einer großen Halle
Inmitten glitzernder und flackernder Lampions
Da kam ein Mann, der nicht mal eine Kerze hatte
Wollte am and des Lichtkreises verweilen
Wer hätt gedacht, daß sie ihn treten und verjagen würden
Zurück! Zurück! Verbirg du dich in Dunkelheit
Würde denn ein Mensch mehr den Glanz vermindern?
So was! Auch noch mit überschüssigem Licht zu geizen!
Nr. 22
Schon früher war ich ganz schön abgebrannt
Heute in tiefer Armut bittrer Kälte
Was immer ich beginne, nichts will mir gelingen
Wohin ich mich auch wende, schubst man mich herum
Lauf ich im Matsch, rutsche ich dauernd aus
Sitz ich bei Dörflern, knurrt der Magen unaufhörlich
Seit ich auch das gescheckte Kätzchen noch verlor
Belagern die Ratten meinen Reiskrug
Nr. 23
O weh!- Armut und überdies noch Not
Verwandte und Freunde standen mir nie nah
Ich hatte lange keinen Reis im Vorratskrug
Im Kochtopf sammelt oft genug sich Staub
Ärmliche Hütte schützt mich nicht vor Regen
Es tropft aufs Bett und den geschundenen Leib
Kein Wunder, daß ich so ausgemergelt bin
Solche Misere macht jeden Menschen krank!
Nr. 24
Sie lachen über mich: Seht diesen Bauerntölpel
Was er für ungeschlachte Züge hat!
Sein Hut hat nie die angemessene Höhe
Den Gürtel trägt er immer viel zu eng-
Nicht, daß ich keine Ahnung von der Mode hätte
Doch ohne Geld kannst du nicht mithalten
Wenn eines Tages ich viel Geld besitze
Trage ich Hüte, hoch wie die Pagode dort!
Nr. 25
Gewisse Leute prahlen gern mit ihrem Lebenswandel
Sie halten sich für talentierter noch als K'ung und Chou
Doch seht nur, ihre Köpfe sind starrsinnig und verbohrt
Und ihre Art ist rauh und ungehobelt
Zieht sie an einem Seil, sie mögen sich nicht rühren
Steht sie mit einer Ahle, nichts kann sie bewegen
Genauso wie der Kranich des Herrn Yang
Sie sind, so fürchte ich, als Blödköpfe geboren
Nr. 26
Anderer Menschen Sünden soll man nicht bekämpfen
Man soll sich nicht der eigenen Tugend rühmen
Wird man gebraucht, so ist es gut zu handeln
Wenn nicht gebraucht, ziehe man sich zurück
Hohes Einkommen bringt großer Pflichten Sorgen
Tiefschürfende Rede zieht auch das Seichte in Betracht-
Ich höre solche Sprüche immer wieder hergeleiert
Sowas versteht doch jedes Kind von selbst!
Nr. 27
Östlich von mir wohnt eine alte Frau
Die wurde erst vor ein paar Jahren reich
War früher ärmer noch als ich
Heut lacht sie, weil ich keinen Pfennig habe
Sie lacht- ich sei ihr unterlegen
Ich lache- sie ist emporgekommen
Wir werden wohl nicht aufhören uns gegenseitig auszulachen
Sie aus dem Osten, ich vom Westen
Nr. 28
Vergebens plagte ich mich mit den Drei Geschichtsbüchern
Vertan die Zeit des Brütens über den Fünf Klassikern
Ich werde bis ins Alter gelbe Zensuslisten prüfen
Und wie gehabt an weißen Steuerformularen sitzen
Befrag ich das I Ching kündet es Schwierigkeiten
Mein Leben ist beherrscht von einem schlechten Stern
Dem Baum am Flußufer werde ich niemals gleichen
Der Jahr für Jahr aufs neue grünt
Nr. 29
Kannst du etwa durch Bücherlesen dem Tode entrinnen?
Kannst du etwa durch Bücherlesen dir Armut ersparen?
Warum nur will ein jeder lesen lernen?
Weil man damit die andren übertreffen kann!
Der stattlichste Mann, kann er nicht lesen
Findet kein Auskommen in dieser Welt
Drum tauche deine Medizin in etwas Knoblauchsoße
Und du vergißt, daß sie so bitter ist
Nr. 30
Die armen Literaten sind alle vom Unglück verfolgt
Hunger und Kälte- bei uns sind sie immer am ärgsten
Wir haben viel Zeit um Gedichte zu machen
Mit Inbrunst kritzelnd kritzelnd geben wir uns aus
Doch wer will solcher Taugenichtse Werke lesen?
Drum rat ich dir, hör auf mit dem Gejammere!
Schrieben wir auch auf feinste Reiskuchen
Selbst streunende Hunde würden nicht anbeißen
Nr. 31
Das neue Korn war noch nicht reif
Da hatte ich das alte schon verbraucht
Drum ging ich, einen Scheffel auszuleihen
Stand zögernd draußen vor dem Tor-
Der Hausherr kam und riet mir seine Frau zu fragen
Fragt meinen Mann! So wies die Frau mich ab
Zu knauserig um einem der arm dran ist auszuhelfen
Sie werden um so törichter je größer der Besitz
Nr. 32
Seit ich ins öffentliche Leben trat hab ich nur Last und Ärger
All die Geschäftigkeit hat mich total verändert
Doch konnte ich bisher nicht von den Konventionen lassen
Fahre draum mit Höflichkeitsbesuchen fort
Gestern sprach ich zum Tod eines gewissen Hsü mein Beileid aus
Heut ging ich zum Begräbnis eines Herrn Liu
Auf diese Art von Tag zu Tag beschäftigt
Macht sich Verdruß in meinem Herzen breit
Nr. 33
Oft denk ich an die Tage meiner Jugendzeit
Als ich auf Jagd durchstreift die Gegend um P'ing Ling
Mir stand der Sinn nicht nach Regierungsposten
Schätzte selbst der Unsterblichen Dasein gering
Auf einem Schimmel sprengte ich den ganzen Tag umher
Ließ jubend meinen Falken auf die Hasen los-
Ehe ich mich versah ist alles das zerronnen
Die Haare weiß, wer kümmert sich dann noch um dich?
Nr. 34
Sieh dort vom grünen Laub umrahmt die Blüten
Wie lange wohl wird ihre Pracht noch dauern?
Heut bangen sie vor einem Menschen der sie pflückt
Morgen erwarten sie eines anderen Gartenbesen
Wie lieblich sind der Jugend zarte Träume
Doch viele Jahre führen dann zum Greisenalter
Betrachte du die Welt wie jene Blüten
Rosige Wangen, wer kann sie lang bewahren?
Nr. 35
Einst reiste ich umher mit Schwert un Schriftrollen
Ich lebte unter drei vollkommenen Herrschern
Im Osten als Beamter fand ich nicht Anerkennung
Im Westen als Soldat erwarb ich kein Ehrenzeichen
Studierte schöne Künste und auch das Kriegshandwerk
Studierte Kriegshandwerk und auch die schönen Künste
Bis heute bin ich nichts geworden als ein Greis
Was bleibt vom meinem Leben- nicht der Rede wert
Nr. 36
Der weiße Kranich, einen Pfirsichzweig im Schnabel
Machte nur alle tausend Meilen einmal Rast
Er wollte in das Märchenland P'eng Lai
Als Wegzehrung sollte der Zweig ihm dienen
Noch nicht am Ziel, da fielen ihm die Federn aus
Fern von der Schar wurde das Herz ihm schwer
Doch als er in sein altes Nest zurückkehrte
Da kannten Frau und Kinder ihn nicht mehr
Nr. 37
Auf edlen Pferden, mit korallverzierten Peitschen
Galoppieren sie über den Weg nach Lo Yang
Noch geben sie an diese jungen Gecken
Glauben nicht, daß auch sie einmal altersschwach werden
Ein Weilchen noch, dann bringt das Leben weißes Haar
Wer könnte seine roten Wangen lang bewahren?
Sehr ihr die Gräber am Pe Mang
DAS ist das Märchenland P'eng Lai!
Nr. 38
Ein Mann mit klaren Kopf, robustem Körper
Er meistert jede der Sechs Fertigkeiten
Doch wendet er sich Süd-wärts landet er im Norden
Will er gen Westen verschlägt es ihn nach Osten
Wie Tang stets ohne Halt umhergetrieben
Niemal in Ruhe, gleich dürrem Gras im Wind
Ihr fragt, was für ein Mensch das sei?
Armut heißt er- man nennt ihn Elend
Nr. 39
Im Abenddämmer spielt eine Mädchenschar
Der Wind trägt ihren Duft über die ganze Straße
Röcke geschürzt mit goldenen Schmetterlingsbroschen
Jadene Mandarinenten auf ihren Haarnadeln
Die Kammerzofen sind gehüllt in rote Seide
Mit purpurnem Brokat gekleidet die Eunuchen
Alle gaffen mich an, der ich den Weg verlor
Ein Mann mit weißen Schläfen und ruhelosem Sinn
Nr. 40
Der Jahreszeiten Wandel rastet nie
Ein Jahr geht hin und ein Jahr kommt
Es gibt für alle Lebewesen Blüte und Vegehen
Die Neun Himmel allein kennen keinen Verfall
Wird es im Osten hell wartet im Westen schon die Dunkelheit
Die Blüten fallen- neue Blüten brechen auf
Allein die zu den Gelben Quellen reisen
Gehen in tiefe Dunkelheit und kehren nicht zurück
Nr. 41
Warum nur bin ich immer so verzweifelt?
Das Menschenleben gleibt dem Morgenpilz
Wer überdauete einige Dutzend Jahre
Jung oder alt, sie alle werden welk und fallen
Daran zu denken macht das Herz mir schwer
O dieser Schmerz! Ich kann ihn kaum ertragen
Was soll ich tun? Sagt doch, was soll ich tun?
Wirf ab den Körper- kehre heim auf verborgenen Gipfel!
Nr. 42
Vor dreißig Jahren kam ich auf die Welt
Immer auf Wanderschaft, tausendz tehntausend Meilen
Reiste vom grasgesäumten Yangtsekiang
Bis in den roten Staub des Grenzlandes im Norden
Ich braute Elixiere, suchte vergebens nach Unsterblichkeit
Studierte Schriften und rezierte die Geschichtswerke
Heimgekehrt heute zum Han Shan
Bette den Kopf ich auf dem Strom und wasche meine Ohren
Nr. 43
Erinnerungen an Erlebnisse vergangener Zeiten
Von einer Attraktion der Menschenwelt zog ich zur anderen
Ich freute mich der Berge, erklomm schwindelnde Höhen
Liebte das Wasser und segelte auf tausend Booten
Gab Abschiedsfeste manchem Gast im Lauten-Tal
Brachte die Zither und spielte auf der Papageien-Insel
Wer hätt gedacht, daß ich nun unter diesen Föhren kauere
Die Knie umklammert in sausender rauschende Kälte
Nr. 44
Nach dem Orakel wählte ich einen abgelegnen Wohnort
T'ien T'ai- was gäbe es da mehr zu sagen...
Durch nebelkalte Schluchten hallen Affenschreie
Grastor verschmiltzt mit Grün des Heiligen Berges
Die Waldhütte zu decken breche ich Blätter
Hebe ein Becken aus und leite Quellwasser herbei
Gern tat ich ab der Welt endlose Händel
Will für den Rest des Lebens Farne sammeln
Nr. 45
Vom Spiel der Vögel überwältigt mit Gefühlen
Ruhe ich nun in grasgedeckter Hütte aus
Wilde Kirschen leuchten glänzend rot
Die Weidenruten hängen langgefiedert
Im Biß blauschwarzer Grate die Morgensonne
Heitere Wölkchen baden im grünen See
Könnt ihr verstehn, daß ich die Welt des Staubs verlassen
Den Schritt gelenkt zum Südhang des Han Shan?
Nr. 46
Einsam lieg ich am Fuße aufgetürmter Felsen
Wo mittags selbst die Nebel sich nicht teilen
Ist es in dieser Hütte auch fast dunkel
So ist mein Sinn hier fern von Lärm und Geschrei
Ein Traum, als ich noch schweifte zwischen goldenen Portalen
Über die Felsbrücke kehrt meine Seele heim
Ich hab den Weltenrummel hinter mir gelassen
Die Schöpfkelle klappert klappert im Baum
Nr. 47
Ich steige, steige auf dem Han Shan Weg
Die Reise zum Han Shan nimmt nie eine Ende
Die Schlucht entlang über Felsbrocken, Steine, Steine
Durch nebeldunkles Gras im weiten Tal
Das Moos ist glitschig, nicht nur wenn es regnet
Die Föhren knarren, doch es geht kein Wind
Wer kann sich befreien aus den Verstrickungen der Welt
Mit mir zu Sitzen zwischen Weißen Wolken?
Nr. 48
Stufe auf Stufe prächtiger Landschaften
Nephritfarbene Berge vom Morgenrot eingefaßt
Nebel wischt Feuchte auf meine Baumwollkappe
Tau netzt den Umhang von geflochtenem Stroh
Die Füße unbeschwert in Pilgersandalen
Die Hand hält einen alten Wanderstab
Einmal hinausgeschaut über die Welt des Staubes
Wie könnte ich zurückkehren ins Reich der Träume!
Nr. 49
Ich lebe voller Freude mit dem Alltags-weg
In einer Grotte unter dunstverhangenen Kletterpflanzen
Mein wildes Herz vollkommen frei und ledig
Für immer Weißer Wolken müßiger Gefährt
Kein Pfad verbindet mich mehr mit der Welt
Bin absichtslos- was könnte mich noch fesseln?
Auf einer Felsplatte sitze ich einsam in der Nacht
Während der Vollmond aufsteigt am Han Shan
Nr. 50
Es lebt der Mensch in Dunkelheit und Staub
So wie ein Käfer der im Krug gefangen
Krabbelt den ganzen Tag im Kreis im Kreis
Doch entflieht er diesem Krug nicht!
Nie kann den Unsterblichen er sich zugesellen
Denn seine Leidenschaften sind unendlich
Monate, Jahre verströmen wie ein Fluß
Ein Augenblick nur und er ist ein alter Mann
Nr. 51
Die reichen Leute haben viele Sorgen
Sie machen nur Geschäfte, wissen nichts dankbar anzunehmen
Wenn auch der Reis in ihrem Kornspeichern schon fault
Leihen sie doch an niemand einen Schaffel aus
Ihre Gedanken kreisen ständig um Profit
Aus billig eingekaufter Seide machen sie "Erste Ware"
Doch dann an ihrem Todestag
Kommen nur Fliegen kondolieren
Nr. 52
Ein Bauernhof mit großen Maulbeergärten
Die Stallungen voll Ochsen und voll Kälber
Wem solches zufällt, der sollte doch an Karma glauben
Voll Eigensinn jedoch verderben sie's von früh bis spät-
In einem Augenblick geht alles in die Brüche
Und ist erst aller Lebensunterhalt verpfändet
In Hosen aus Papier, mit einem Dachziegel als Lendenschurz
Verhungern und erfrieren sie am Ende
Nr. 53
Ein Gast bekrittelte den Meister vom Han Shan:
In deinen Versen fehlen die Rechten Grundsätze
Las ich doch bei den Weisen des Altertums
Daß sie sich ihrer Armut niemals schämten-
Ich mußte über seine Worte lachen:
Geschwollene Reden führen ist wohl leicht
Doch möcht ich dich in meiner heugen Lage sehn
Wie wichtig dann die Groschen für dich wären
Nr. 54
Vier oder fünf halbstarke Schwachköpfe
Nichts was sie tun ist wahr und aufrichtig
Haben noch keine zehn Schriften studiert
Doch mit kritischem Pinsel sind sie schnell bei der Hand
Sie nehmen den "Lebenswandel des Gelehrten"
Und nennen es einen Räuberkodex
Sind dabei "selbstlos" wie der Bücherwurm
Der anderer Leute Folianten zerfrißt
Nr. 55
Han Shan- so finster und geheimnisvoll
Wer ihn besteigt tut es in Angst und Schrecken
Im Mondlich tiefer Wasser Glitzerglanz
Wind fährt durch die Gräser rischelraschel
Schneeblüten trägt der dürre Pflaumenbaum
Wolken statt Blattwerk in den kahlen Wipfeln
Ein Schauer wandelt alles wie mit Geisterhand
Den Aufstieg schaffst du nur bei klarem Himmel
Nr. 56
Mein Heim liegt unterhalb der grünen Klippe
Der Hof verwuchert, mag ihn auch nicht mähen
Und immer neue Ranken baumeln verschlungen herab
Uralte Felsen steilen senkrecht auf
Die Affen kommen wilde Beeren pflücken
Der Reiher schnappt sich Fische aus dem Teich
Mit ein paar Schriftrollen von dem Unsterblichen
Sitze ich murmelnd murmelnd unterm Baum
Nr. 57
Wie wohl uns doch zur Zeit des Chaos war
Wir brauchten nicht zu essen, nicht zu pissen
Wer suchte uns mit seinem Bohrer heim
Um uns mit den neun Löchern zu versehen?
Tag über Tag müssen wir essen und uns ankleiden
In jedem Jahr der Ärger mit der Steuer
Tausend von uns streiten um einen Groschen
Sie rennen sich die Köpfe ein und schrein aus vollem Hals
Nr. 58
Chang Tzu sagte, daß bei seinem letzten Geleit
Der Himmel und die Erde seinen Sarg abgäben
Wenn dann für mich die Zeit zur Heimkehr kommt
Brauche ich nur ein paar Bananenblätter
Als Leiche werde ich die grönen Fliegen füttern
Bei weißen Kranichen müht man sich nicht um Totenklage
Und übermannt mich auch der Hunger auf dem Shou Yang Berg
Nach einem unbescholtnen Leben ist auch der Tod voll Freuden
Nr. 59
Tod und Leben haben ihre Bestimung
Reichtum und Ansehen kommen vom Himmel-
So sprach ein Mensch des Altertums
Ich sage euch, das sind auch heute keine Ammenmärchen
Ein weiser Mann mag ruhig in jungen Jahren sterben
Der Narr allein sehnt sich nach langem Leben
Hohlköpfe horten viele Schätze
Der Wissende hat keinen Pfennig
Nr. 60
Seit ich mich einst auf den Han Shan zurückzog
Ernähr ich mich von wilden Früchten
Ein friedliches Leben, was braucht ich mich zu sorgen
In dieser Welt nimmt alles seinen vorbestimmten Lauf
Tage und Monde verströmen unaufhaltsam wie der Fluß
Unsere Zeit- Funken von einem Feuerstein
Die Welt zu ändern überlaß ich euch
Ich sitze still vergnügt zwischen den Klippen
Nr. 61
Bin ich nicht um der Berge Wonne zu beneiden
In Muße wandernd und von niemand abhängig
Der Sonne nachjagend macht man sich nur kaputt
Ruhen erst die Gedanken, dann bleibt nichts zu tun
Gelegentlich entrolle ich eine der alten Sutren
Klettere ab und zu zum Felsschlößchen hinauf
Schaue hina auf tausend Klafter tiefe Schluchten
Über mir quellen Wolkenwirbel auf
Ein kalter Mond, frostigen Windes Sausen
Mir ist wie einem einsam ziehenden Kranich zumute
Nr. 62
Die Leute fragen nach dem Han Shan Weg
Han Shan? Kein Pfad führt euch dorthin
Hier scmilzt das Eis auch spät im Sommer nicht
Im Nebel steigt die Sonne blaß wie der Mond
Und ich, wie ist es mir gelungen?
Mein Sinn ist nicht dem euren gleich-
Wenn euer Sinn wie meiner wäre
Dann führte er auch euch hierher
Nr. 63
Hoch in zerklüftetem Gebierge Weiße Wolken
Wellen kräuseln die Weite blaugrünen Sees
Hier höre ich von Zeit zu Zeit den alten Fischer
Wie stakend er zum Klappern seiner Stange singt
Wieder und wieder die Stimme, ich mag sie nicht mehr hören
Zu viele traurige Erinnerungen ruft sie wach-
Wer sagt, der Spatz habe kein Horn?
Seht doch, wie er ein Loch ins Dach mir bohrt!
Nr. 64
Im letzten Jahr beim Frühlings-Vogelsang
Gedachte ich voll Sehnsucht meiner Kameraden
Während in diesem Herbst die Chrysanthemen welken
Denk ich zurück an meine Jugendzeit
Grüne Wasser glucksen allerorts im Lande
Rings in den Ebenen wirbelt gelber Staub
Ach! Muß ich denn mein Leben lang
Mit solcher Wehmut an die Hauptstadt denken?
Nr. 65
Wie eisig kalt ist es tief im Gebirge!
Von alters her, nicht erst in diesem Jahr
Schartige Gipfel unter ewgem Schnee erstarrt
Düstere Wälder speien Nebelschwaden
Gras wächst erst nach der Ährenzeit
Die Blätter fallen schon vor Herbstanfang
Ein Wanderer hier- tief in Verirrung
Er späht und späht, doch sieht den Himmel nicht
Nr. 66
Ein komischer Weg führt zum Han Shan
Da ist nicht eine Spur von Pferd und Wagen
Kaum möglich die gewundnen Schluchten sich einzuprägen
Steilwände ragen unabsehbar hoch
Tausend verschiedne Gräser weinen Tau
Die Kiefern alle gleich, drin stöhnt der Wind
Hab mich verirrt, finde den geraden Weg nicht mehr
Körper fragen Schaten- Wohin von hier?
Nr. 67
Ich halte Ausschau: Ach! so weit das Auge sieht
Stehn Weiße Wolken rings in grenzenloser Weite
Eulen und Krähen, fett, faul und aufgeblasen
Doch Luan und Feng im Hunger verloren und verirrt
Edle Pferde, versprengt in weiter Steppe
Nur lahme Esel erreichen die große Halle,
Des hohen Himmels Wege sind nicht zu erforschen
Ein Zaunkönig über den kalten weiten Wellen
Nr. 68
Schweigen, Schweigen- niemals ein Gespräch!
Was willst du so der Nachwelt zu berichten geben?
Fern von der Welt im tiefen Wald verkrochen
Wie soll dir da die Sonne der Erkenntnis aufgehen?
So ausgezehrt kannst du nicht stark und wachsam sein
Frostiger Wind bringt Krankheit und frühen Tod-
Pflüge mit irdnem Ochsen einen Fels-Acker
Und du erlebst niemals den Ernte Tag
Nr. 69
Alleine Sitzend bin ich noch immer ruhelos
Mit Leidenschaft im Herzen- wie lange, lange noch?
Der Berg und nichts als Wolken weit und breit
In Abgrundtiefe heulte und pfeift der Wind
Durch wogende Baumwipfel turnen Affen
Mit schrillem Schrei entflieht ein Vogel in den Wald
Der Sturm der Zeit zerzaust und lichtet mir das Haar
Am Jahresende- ein enttäuschter und bittere Greis
Nr. 70
Dunkel Dunkel- der Han Shan Weg
Steinig Steinig- des kalten Bergbachs Ufer
Tschiep Tschiep- überall sind Vögel
Einsam Einsam- nirgends ist ein Mensch
Huiii Huiii- Wind beißt ins Gesicht
Wirbel Wirbel- Schnee bedeckt den Körper
Morgen für Morgen sehe ich nicht die Sonne
Jahr über Jahr kenne ich keinen Lenz
Nr. 71
Ich hörte einst vom T'ien T'ai sagen
Tief in den Bergen sei ein Baum von Edelstein
Schon immer wollte ich zu ihm hinaufsteigen
Fand aber nie den Weg über die Felsbrücker
Seitdem sind meine Tage voll Kummer und voll Suefzen
Die Zeit des Lebens sich zu freun ist bald dahin
Als ich mich heut im Spiegel sah
Da war mein schüttres Haar schlohweiß
Nr. 72
Mit Jahreswechsel ging ein trübseliges Jahr
Zum Frühlingsanfang strahlt die Welt in frischen Farben
Wilde Blumen lachen über grünem See
Berggipfel tanzen im blauen Dunst
Bienen und Schmetterlinge spielen selbstzufrieden
Der Vögel und Fische Freude darf ich teilen
Die Sehnsucht nach einem Spiel-Gefährten aber blieb
Bis Morgengrauen wälzte ich mich schlaflos
Nr. 73
Vom Weg zu hören soll Trübsal und Leid verjagen
Doch diese Worte sprechen nicht die Wahrheit
Erst gestern morgen war aller Kummer verdammt
Da bin ich heut schon wieder tief darin verstrickt
Am Monatsende waren Leid und Trübsal auch erschöpft
Das neue Jahr jedoch bringt immer neue Sorgen
Wen wunderts, steckt doch unter diesem Hut
De alte Griesgram, nach wie vor!
Nr. 74
Ich wohne auf dem Berg, Trübsal im Herzen
Trauere nur fliehenden Lebensjahren nach
Sammele fleißig Kräuter für das Lebenselixier
Doch hat mich alles Forschen etwa unsterblich gemacht?
Nun ist mein weiter Hof in Wolken eingehüllt
Im Schein des kugelrunden Mondes liegt der Wald
Kehre nicht heim, was will ich denn noch hier?
Es sind die Zimtbäume, die mich zurückhalten
Nr. 75
Keiner der weisen Männer seit dem Altertum
Hat uns ewiges Leben demonstriert
Was auch ins Leben kam geht wieder in den Tod
Muß ganz und gar in Staub und Asche fallen
Gebeine häufen sich zu einem riesigen Berg
Ein Ozean aus Abschiedstränen
Was bleibt sind nichts als leere Namen
Wer entflieht dem Kreislauf von Geburt und Tod?
Nr. 76
Heute sass ich vor der Flesklippe
Bis schließlich aller Nebel sich verzog
Ein gerader Weg, glitzernd der kalte Bach
Achttausend Fuß, die Gipfel jadefarben
Im milden Morgenlicht stehn Weiße Wolken
Bei Nacht des hellen Mondes schwebender Glanz
Nun bin ich frei von jedem Makel
Welch Kummer könnte meinen Sinn noch trüben?
Nr. 77
Über dem Han Shan- nichts als Weiße Wolken
Still und entfernt vom Staub der Welt
Zum Sitzen eine Lage Stroh in meiner Berghütte
Einzige Lampe ist des Mondes helles Rund
Ein Felslager neben dem grünen Teich
Tiger und Hirsch allein sind meine Nachbarn
Wer sich die Freuden eines Lebens in Verborgenheit ersehnt
Muß ein für allemal die Scheinwelt überschreiten
Nr. 78
Mein Sinn er gleicht dem Mond im Herbst
Der unbefleckt sich in smaragdnem Weiher spiegelt-
Ach nein, es gibt nichts das vergleichbar wäre
Sag mir, wie könnte ich es ausdrücken?
Nr. 79
Mal steig ich in die Schlucht hinab
gespiegelt vom grünen Bach
Dann wieder sitze ich am Grat
auf einem mächtigen Felsen
Einsamer Wolke gleicht mein Sinn
kein Ort wo er verweilt
In weiter Ferne die Geschäfte der Welt
Was brauchte ich noch zu suchen?
Nr. 80
Zwischen den tausend Wolken, abertausend Wassern
Da lebt in Seelenruhe ein Poet
Tagsüber wandert er durch blaue Berge
Abends zurückgekehrt ruht er am Fuß der Klippe
Frühling und Herbst die fliegen rasch vorüber
Zur Ruh gekommen sammelt er keinen Staub
Herrlich führwahr, an nichts mehr festzuhalten
Still wie des großen Flusses Herbstfluten
Nr. 81
Am Flußufer da sah ich gestern einen Baum
Gebrochen und zerfetzt, es ist kaum zu beschreiben
Nur zwei, drei Äste waren ihm geblieben
Von ungezählten Axthieben zernarbt
Frost hatte die vergilbten Blätter ihm entrissen
Die Wellen schlugen gegen seine morschen Wurzeln
So muß es allen Lebenwesen gehen
Warum dem Himmel und der Erde darum fluchen?
Nr. 82
Ersehnst du dir aus tiefstem Herzensgrunde einen Weg-Gefährten
Ein Weg-Gefährte ist immer zum Greifen nahe
Triffst du auf Wanderer die von der Quelle abgeschnitten
Empfange jedermann als Gast zu einem Zen-Gespräch
Plaudert vom Geheimnis bis der Mond die Nacht erhellt
Ergründet die Prinzipien bis kurz vor Sonnenaufgang
Dann laßt myriaden Ursachen und Wirkungen vergessen sein
Und ihr erkennt den ursprünglichen Menschen
Nr. 83
Hoch, hoch erhaben über allen Gipfeln
Wohin ich blicke- grenzenlose Weite
Da sitze ich allein, von aller Welt vergessen
In kalter Qulle, das ist nicht der Mond
Der Mond selbst steht am schwarzen Himmel
Ich singe dieses Lied für euch
Im Lied ist allerdings kein Zen
Nr. 84
Du willst in Frieden leben und Verborgenheit?
Hier am Han Shan ist dafür stets gesorgt
In finsteren Föhren säuselt eine sanfte Brise
Hör näher hin, es ist die herrlichste Musik!
Unter den Bäumen hockt ein Mann mit weißen Strähnen
Liest murmelnd murmelnd über Huang und Lao
Zehn Jahre mocht er nicht nach Hause kehren
Vergessen ist der Weg den er einst kam
Nr. 85
Am Anfang teilte er Himmel und Erde
Sidelte dann den Menschen in ihrer Mitte an
Uns zu verwirren speit er Nebelschwaden
Uns wieder zu ernüchtern atmet er den Wind
Wenn er uns schont, schenkt er Reichtum und Ehre
Uns heimzusuchen sendet er Armut und Not
Ihr Leut von Han, die ihr euch plagt und plackt
Es hängt doch alles ab vom Himmelsherrscher
Nr. 86
Von Kindheit an nicht hin und her reisen
Und bis zum Tod nicht Sittlichkeit und Pflicht kennen-
Wenn man sich an das Äußerliche dieser Worte hält
Hegt man bald Lug und Trug im Busen
Eröffnen solche Reden erst einen kleinen Weg
Dann sind sie Grund für das Entstehen großer Lügen
Wer sich mit Heuchelei eine Sturmleiter baut
Der schneidet sich dazu Äste mit spitzen Dornen
Nr. 87
Mein Wille läßt sich nicht einfach aufrollen
Ihr solltet wissen, daß ich keine Matte bin
Ich ging so tief in diesen Bergwald
Um ganz allein auf einem Fels im Steilhang auszuruhn
Nun kommen diese Schwätzer, reden hin und her
Drängen mich Gold und Jade anzunehmen-
Löcher in Wände bohren und Unkraut darin pflanzen
Damit ist niemandem gedient!
Nr. 88
Im Felsgewirr zu leben bestimmte mir das Orakel
Ein Vogel-Weg, kein Mensch spürt mir hier nach
Was meint ihr liegt dort jenseits meines Hofes?
Weiße Wolken umhüllen dunkelen Fels-
Wieviele Jahre wohne ich schon hier?
Sah oft den Frühling sich in Winter wandeln
Bestellt den Leuten die in Pomp und Reichtum leben
Mit eitlem Ruhm weiß ich nichts anzufangen!
Nr. 89
Sehen die Menschen von heute den Han Shan
So meint ein jeder sein Gebaren sei verrückt
Meine Erscheinung ist nicht gerade attraktiv
Der Körper ist ein einziges Flickenbündel
Und meine Worte die verstehn die andern nicht
Wo andere reden halte ich den Mund
Ihr, die ihr ständig hierhin- dorthin eilt
Versucht doch mal bis zum Han Shan zu kommen.
Nr. 90
Ein gewisser Professor namens Wang
Lachte über die vielen Fehler meiner Verse:
Von Wespentaille hast du wohl noch nichts gehört
Und weißt du nicht, was Kranich-Knie bedeutet?
Du hast von Versmaß keine blasse Ahnung
Reihst Wörter aneinander wie es dir gefällt-
Ich lache auch, wenn Du Gedichte machst
Das ist als ob ein Blinder von der Sonne singt!
Nr. 91
Weise Männer- ihr habt mich verworfen
Ihr Narren- ich verwerfe euch!
Ich will kein Narr und auch kein Weiser sein
Drum laßt uns fortan nicht mehr voneinander hören
Im Abenddämmer sing ich für den hellen Mond
Beim Morgengrauen tanze ich mit Weißen Wolken
Wie könnt ich Mund und Glieder stillehalten
Stocksteif zu sitzen bis mein Haar sich lichtet?
Nr. 92
Einmal zum Han Shan gelangt
alle Geschäfte ruhn
Keine verwirrten Gedanken mehr
ohne Zweifel das Herz
In Seelenruhe
ein Gedicht an die Feldwand schreiben
Die Dinge lassen
gehen
kommen
wie ein Boot ohne Leine
Nr. 93
Mein Leben lang war ich bequem und unbekümmert
Verabscheute Gewichtigkeit, tat nur was leicht und einfach
Über Geschäfte mögen andere sich den Kopf zerbrechen
Ich halte mich an meine Eine Schriftrolle
Was soll ich sie mit Stoff und Spule aufziehen
Und wo ich geh und steh den Leuten vor die Nase halten
Für jede Krankheit weiß sie eine Medizin
Das angemessene Mittel alle Lebewesen zu erretten
Ist erst dein Sinn aller Gedanken ledig
Was gäbe es dann noch, das nicht einsichtig wäre?
Nr. 94
Wie traurig daß die Menschen in diesem flüchtgen Leben
Niemals aufhören ihre Tage zu vertrödeln
Tag über Tag finden sie keinen Frieden
Bemerken nicht wie Jahr um Jahr das Alter naht
Alles wonach sie trachten ist Kleidung und Essen
In ihrem Sinn lassen sie Überdruß und Ärger wuchern
Ständig in Aufruhr müssen sie für hunderttausend Jahre
Auf den Drei Schlechten Pferden hin und her wandeln
Nr. 95
Sie kochen Kieselsteine, eine Mahlzeit zu bereiten
Beginnen erst Brunnen zu graben wenn sie durstig sind
Müht man sich noch so sehr den Ziegel zu polieren
Wer könnte jemals einen Spiegel daraus machen?
Der Buddha sagte, daß wir ihm von Anfang ebenbürtig sind
Alle besitzen wir das gleiche Wahre-Wesen
Doch denken sie alleine in Für und Wider
Können das Streben und Streiten nicht sein lassen
Nr. 96
Mein Wohnhaus hat kein buntbemaltes Dachgestühl
Der grüne Wald, das ist mein Heim
Ein Menschenleben geht im Nu vorüber
Die endlosen Händel sind nicht durch Worte abgetan
Ein Bambusfloß reicht nicht, den Strom zu überqueren
Wer dabei Blumen pfückt, den ziehts hinab in einen Strudel
Wenn du nicht heut schon gute Werke säst
Wann willst du je die Knospen sprießen sehen?
Nr. 97
0 ja! Nun wohne ich auf dem Han Shan
Schon seit unzählbar vielen Jahren
Meiner Bestimmung überlassen verbarg ich mich im Walde
Verbringe meine Tage in stiller Wesens-Schau
Zu dieser Klippe dringt keine Menschenseele vor
Von Weißen Wolken bin ich stets umringt
Das weiche Gras gilt mir als Lagerstatt
Zur Decke nehme ich den blauen Himmel
Wohlig den Kopf auf einen Stein gebettet
Laß ich des Weltalls Wandlungen den Lauf.
Nr. 98
In Muße wandernd auf den Gipfel des Hua Ting
Die Sonne klar, ein strahlend lichter Tag
Sah ich mich um- im blauen Firmament
Flogen vereinigt Kraniche und Weiße Wolken
Nr. 99
Euch Fleischessern möcht ich ein Wörtchen sagen:
Mit eurem Essen solltet ihr nicht so nachlässig sein!
In diesem Leben erntet ihr, was im vergangenen ihr sätet
Und heute richtet ihr bereits das zukünftige ein
Doch kümmert ihr euch nur um das was heute angenehm
Habt keine Furcht vor den Leiden kommender Leben
Einst schlüpfte eine Ratte in den Vorratskrug
Als sie sich vollgefressen, brachte sie kaum den Kopf heraus
Nr. 100
Den Körper in ein prächtig Kleid aus Nichts gehüllt
Am Fuß ein Schuh vom Fell der Schildkröte
Fest in der Hand den Bogen aus Kaninchen-Horn
Ziel ich den Dämon Unverstand zu töten
Nr. 101
Zum Ostgipfel wollt ich mich aufmachen
Wer weiß wie viele Jahre schon
Als ich mich gestern an den Schlingpflanzen emporhangelte
Wurd ich auf halbem Weg von Wind und Nebel arg bedrängt
Der Pfad so schmal, daß meine Kleider sich verfingen
Das Moos war sumpfig und die Schuhe blieben kleben
So macht ich unter diesem roten Zimtbaum Rast
Und schlief mit einer Weißen Wolke als Kopfkissen ein
Nr. 102
Frei schweift mein Blick bis zum T'ien T'ai
Einsam und hoch über der Schar der Gipfel
Bambus und Föhren tönen windgeschüttelt
Mondglitzern in der Brandung ferner Strande
Zum grünen Saum des Berges schaue ich hinab
Plaudre mit Weißen Wolken über die geheimnisvolle Lehre
Berge und Flüsse sind meinem wilden Herzen sehr genehm
Doch tief im Inneren ersehn ich einen Weg-Gefährten
Nr. 103
Warum ist dieser Mensch noch immer ruhelos?
Beurteilt selbst den Wohnort den das Orakel mir beschied:
Im südlichen Gebiet dräuen giftige Dämpfe
Im Norden herrschen bittrer Frost und Sturm
Das öde Land ist völlig unbewohnbar
Aus den verseuchten Flüssen kann man nicht trinken
So wandert meine Seele immer wieder heimwärts
Nascht von den Maulbeeren des Gartens am Familienhaus
Nr. 104
Im Traum kehrte ich letzte Nacht ins Heimatdorf zurück
Sah meine Frau am Webstuhl arbeiten
Da hielt sie wie sehnsuchtsverloren inne
Nahm müde dann das Schiffchen wieder auf
Ich rief sie an, sie blickte sich um nach mir
Wandt sich verwirrt ohne Erkennen wieder ab
Zu viele Jahre gingen seit ich Abschied nahm
Mein Schläfenhaar verlor derweil die alte Farbe
Nr. 105
Einst kam ich, am Han Shan zu Sitzen
Blieb lange, ganze dreißig Jahr!
Besuchte gestern meine Freunde und Verwandte
Die Mehrzahl ging längst zu den Gelben Quellen
Verlöschten nach und nach wie Kerzenstummel
Entströmten, dem Fluß gleich, ohne Wiederkehr
Morgens steh ich verwaistem Schatten gegenüber
Nicht gewahr, daß zwei Tränenbäche tropfen
Nr. 106
In freier Natur wuchs ein hundert Fuß hoher Baum
Aus dem man lange Bretter sägen könnte
Wie schade um alle großen und kleinen Balken
Die dort in tiefer Schlucht verschwendet sind
Durch viele Jahre ist sein Kern erstarkt
Im Lauf der Zeit entblößte es ihn aller Rinde
Wer jedoch von ihm wüßte käme ihn sich holen
Um dann wohl einen Pferdestall daraus zu baun
Nr. 107
Buddhistische Priester halten die Gebote nicht
Die Taoisten trinken nicht ihr Lebenselixier
Wie viele Weise gab es seit dem Altertum?
Sie liegen alle unter einem grünen Hügel
Nr. 108
Unermeßlich weite Wasser des Huang Ho
Fließen gen Osten ohne Unterlaß
Niemals erlebt man wie der Strom sich klärt
Denn aller Menschen Leben hat ein Ende
Willst du jedoch auf einer Weißen Wolke reiten
Weißt du wodurch dir Flügel wachsen?
Nur wenn du dir, so lang dein Haar noch schwarz
Wo du auch gehst und stehst die größte Mühe gibst
Nr. 109
Mein Körper, existiert er oder nicht?
Gibt es ein Ich oder gibt es kein Ich?
Vertieft in die Ergründung solcher Fragen
Sitze ich an den Fels gelehnt während die Zeit verrinnt
Zwischen den Zehen sprießt das grüne Gras
Auf meinem Haupt setzt sich der rote Staub
Schon kommen Menschen aus der Welt
Früchte und Wein an meinem Totenbette darzubringen
Nr. 110
Der Ort wo meine Tage ich verbringe
Ist unsagbar verborgen und geheimnisvoll
Kein Wind- von Selbst rascheln die Schlingpflanzen
Kein Nebel- im Bambushain bleibts immer dunkel
Was ist es, das den Wildbach glucksen läßt?
Ganz von alleine quellen Wolken auf am Berg
Des Mittags Sitzend in meiner Berghütte
Da erst erkannte ich der Sonne vollen Glanz!
Nr. 111
Auf Tausend-Jahre-Felsen
den Alten auf der Spur
Vor Zehntausend-Klafter-Klippe
strahlende Leere allein
So lange der helle Mond noch scheint
bin ich immer ohne Fehl
Vorbei die Plage des Suchens und Bettelns
des Forschens in West und Ost
Nr. 112
In Muße ging ich einen ehrwürdigen Mönch besuchen
Dunstige Berge lagen tausendfach geschichtet
Als mir der Meister selbst den Heimweg wies
Hängte der Mond seine runde Laterne auf
Nr. 113
Manch Zeitgenosse sucht nach dem Wolken-Pfad
Der Wolken-Pfad- dunkel und ohne Wegweiser
Ragende Gipfel, unglaublich schroff und abweisend
In ferne Schluchten dringt nur wenig Licht
Vor und zurück stehn Nephrit Felsen
Von West bis Ost ziehn Weiße Wolken
Ihr fragt, wo findet sich der Wolken-Pfad?
Der Wolken-Pfad, dort mitten in der Leere!
Nr. 114
Zu alten Zeiten, als ich noch bettelarm
Zählte ich jede Nacht der anderen Schätze
Nun hab ich mir die Sache nochmal überlegt:
Du solltest dir im eigenen Hause ein Vermögen schaffen!
So grub ich und fand ein verborgenes Kleinod
Eine vollkommen reine Perle aus Kristall
Da kam ein reicher blauäugiger Fremdling
Mit der geheimen Absicht, sie mir abzukaufen
Ich ließ ihn aber ohne Umschweif wissen
Für diese Perle gibt es keinen Preis!
Nr. 115
Zahlloser Sterne breites Band
glitzernd in tiefer Nacht
Klippe beschienen von einsamer Leuchte
Mond noch nicht gesunken
Prächtiger Glanz vollkommener Kugel
von ungeschliffnem Jaspis
Aufgehängt im nachtschwarzen Himmel
Das ist mein Sinn
Nr. 116
Über dem Westhang feuerrot die Abendsonne
Gräser und Bäume lichtdurchflutet
Doch dort an einem düsteren Flecken
Im Dickicht von Föhren und Schlingpflanzen
Darinnen lauern viele Tiger
Sobald sie mich erblicken sträubt sich ihnen das Fell
Und ich, nicht mal ein Messer in der Hand
Warum bin ich nicht starr und steif vor Angst?
Nr. 117
Ich habe mich ans Leben im entlegenen Versteck gewöhnt
Gehe nur manchmal in das Kuo Ch'ing Kloster
Wenn ich dort mit dem Alten Feng Kan diskutiere
Gesellt sich meistens auch Shih Te dazu
Allein kehre ich dann auf den Han Shan zurück
Dort hab ich niemanden mit dem ich sprechen könnte
Man fragt ja doch nach einem Wasser ohne Quelle
Der Quell versiegt- das Wasser unerschöpflich
Nr. 118
Wie wunderbar die kalte Klippe tief verborgen
Kein Mensch noch fand den Weg hierher!
Still schweben Weiße Wolken über steilen Gipfeln
Einsamer Affe kreischt im grünen Hang
Was braucht ich da noch für Gesellschaft?
Ich werde alt, ganz wie es mir gefällt
Mag auch in Frost und Sommerglut meine Gestalt verwittern
So kann ich doch die Perle im Herzen bewahren
Nr. 119
Zehntausend Meilen fern von Haus und Hof
Das Schwert führend um die Hunnen zu schlagen
Solltest du Glück haben, müssen sie sterben
Doch hast du Pech, ist es um dich geschehn
Du schonst ihr Leben nicht, also
Ists ein Verbrechen wenn sie deines nehmen?
Ich will dir das Geheimnis ewigen Sieges verraten
Nichts zu begehren ist das beste Vorgehen!
Nr. 120
Im tiefen Walde lebt ein Hirsch
Der Wasser trinkt und Gräser frißt
Er streckt sich unter einem Baum zum Schlafen aus
Beneidenswert, so völlig ohne Leidenschaften
Doch sperrte man den Hirsch in eine prächtige Halle
Böt man ihm selbst köstlichste Leckereien
Würd er den ganzen Tag nicht fressen wollen
Und immer mehr abmagern und verfallen
Nr. 121
Ich sehe einen Menschen der die anderen betrügt
Als einen Mann der einen Korb mit Wasser trägt
Läuft er auch noch so schnell damit nach Hause
Was hat er wenn er ankommt noch in seinem Korb?
Betrachte ich den Menschen der betrogen wird
Erscheint er mir so wie der Lauch im Garten
Man reißt ihm täglich seine Blätter ab
Doch in der Wurzel bleibt er stets er Selbst
Nr. 122
In diesen Tagen gibt es eine Art von Menschen
Die sind nicht böse aber auch nicht gut
Sie wissen nicht was es bedeutet Herr im Haus zu sein
Als Vagabunden wohnen sie mal hier, mal da
Doch die auf diese Weise ihre Zeit vergeuden
Sind nichts als stumpfsinnige Fleischklumpen
Wenngleich sie auch einen magischen Turm besitzen
Führen sie doch ein Sklavendasein
Nr. 123
Sein Sinn hochfahrend wie ein Berggipfel:
Ich habs nicht nötig, mich vor andren zu verneigen!
Kann nicht allein den vedischen Kanon auslegen
Sondern beherrsche auch das Schrifttum der Drei Lehren-
Nicht eine Spur von Scham in seinem Herzen
Bricht er alle Gebote, verstößt gegen die heiligen Gesetze-
Meine Lehre ist der Dharma der Höchsten Menschen
Drum nennt man mich den Größten aller Lehrer!-
Sämtliche Trottel preisen und verehren ihn
Und die Gelehrten applaudieren hocherfreut.
O dieser Blender - wie könnte er mit seinem eitlen Ruhm
Dem Kreislauf von Geburt und Tod entrinnen?
Es wäre so viel besser, überhaupt nichts "auszulegen"
Still Sitzend Angst und Wut zu überwinden
Nr. 124
In Wirklichkeit verbringst du alle Tage wie im Rausch
Der Jahre Strom verhält derweil nicht einen Augenblick
Liegst du erst unter wuchernden Gräsern begraben
Wie dunkel, dunkel dämmert dann der Morgen!
Sind deine Knochen und dein Fleisch vermodert
Und hat sich deine Seele fast verflüchtigt
Selbst wenn du Kiefer hattest, die durch Eisen bissen
Kannst du deinen Lao Tzu nicht mehr rezitiern
Nr. 125
Da gibt es einen Baum noch älter als der Wald
Du willst die Jahre zählen? Sie sind jenseits jeder Zahl
Die Wurzeln überdauerten die Wandlungen von Tal und Hügel
Ewigem Wechsel von Sturm und Frost waren die Blätter ausgesetzt
Über sein abgerissenes Äußeres lacht ein jeder
Niemand hat Sinn für das kostbare Holz im Kern
Ist einmal alle Rinde abgefallen
Bleibt nichts zurück als das Wahre-Selbst
Nr. 126
Es ist ein Mann der lebt von roten Morgenwolken
An einem Ort den meidet das gemeine Volk
Spricht man mit ihm ist er aufrichtig und besänftigend
Sein Sommer ähnelt mehr dem Herbst
Tief in der Schlucht rauscht immerfort der Bach
Wind wispert in den hohen Föhren
Sitzt du in deren Mitte nur einen halben Tag
Vergißt du allen Kummer deiner hundert Jahre
Nr. 127
Es gibt zu viele Intellektuelle auf der Welt
Die haben ausgiebig studiert und wissen einfach alles
Doch kennen sie ihr ursprüngliches Wahres-Wesen nicht
Und wandeln fern, so fern vom Weg!
Wie eingehend sie auch die Wirklichkeit erklären
Was nützen denn alle die leeren Formeln?
Wenn du ein einzig mal dein Selbst-Wesen erinnerst
Dann tut sich dir des Buddhas Einsicht auf
Nr. 128
Ihr eifrigen Schüler des Weges laßt euch sagen
Daß ihr euch ganz umsonst um Fortschritte bemüht
Des Menschen Wesen ist ein geistig Ding
Es ist kein Wort und keine Wissenschaft
Ruft- und es antwortet unmißverständlich
Doch wohnts im Stillen und läßt sich nicht festhalten
Merkt euch: Am besten könnt ihr es bewahren
Indem ihr es durch nichts beflecken laßt!
Nr. 129
Wer immer meine Gedichte verstehen will
Muß reinen Sinn sich stets bewahren
Heut Geiz und Habsucht, morgen Mäßigung
Bald Lug und Trug und bald Wahrhaftigkeit
Ist das verjagt schwindet auch schlechtes Karma
Buddha vertrauend erfahrt ihr euer Wahres-Wesen
Erlangt das Buddha-Wesen hier und jetzt
Geschwind Geschwind als wie Lü Ling!
Nr. 130
Es steht ein Wohnhaus am Han Shan
Drinnen gibt es keine Trennwände
Durch die Sechs Pforten geht man ungehindert ein und aus
Und von der Halle sieht man auf ins blaue Firmament
Ein jeder Raum ist völlig leer
Die Ostwand stößt gegen die Westwand
Da es rein gar nichts dort zu holen gibt
Bleib ich von Schnorrern stets verschont
Ist es mir kalt entzünde ich ein kleines Feuer
Habe ich Hunger koche ich eine Kräutersuppe
Was kümmern mich die werten Grundherren
Die sich für ihre großen Höfe abrackern
Aller Besitz wird ihnen doch nur zum Gefängnis
Einmal hineingeraten gibts kein Entrinnen mehr
Darüber solltest du mal sehr gut nachdenken
Vielleicht durchschaust du dann die Spielregeln
Nr. 131
Über Essen zu reden macht euch nicht satt
Von Kleidung zu schwätzen schützt nicht vor Kälte
Zum Sattessen braucht es schon eine Mahlzeit
Nur in Kleider gehüllt entgeht man dem Frost
Ihr könnt euch nicht vom Prüfen und Bedenken freimachen
Behauptet nur, dem Buddha nachzufolgen sei unmöglich -
Kehrt den Blick ins Herz und alsbald seid ihr Buddha
Im Außen findet ihr ihn nie!
Nr. 132
Die Quelle ist klar und glitzert wie ein Edelstein
Ich sehe tief in den Grund des Wahren-Selbst
Kein einziger Gedanke in meinem Sinn
Durch myriaden Welten nicht zu bewegen
Da der Sinn nicht mehr unnötig aufgeführt
Bleibt er zahllose Kalpa bestehen
Hast du erst dieses Wissen erlangt
Weißt du: Es gibt nicht Innen und Außen
Nr. 133
Wie viele T'ien T'ai Zeitgenossen
Kennen den Mann vom Han Shan nicht
Begreifen seine Wahrheit nicht
Und sagen doch: Er macht nur leere Worte
Nr. 134
Was habt ihr hier für eine prächtige Schenke
Der Wein ist nur vom Allerbesten
Ah - und die Banner flattern hoch im Wind
Im weiten Umkreis gibt es nirgends ein so volles Maß
Was denn, ihr wundert euch über den mageren Absatz?
In diesem Hause hält man wohl zu viele bissige Hunde!
Kaum kommt ein junger Bursche, einen Schluck zu nehmen
Beißt ihn ein Köter und er läuft wieder davon
Nr. 135
Mir scheinen manche Menschen die der Welt entsagen
Nicht mal die Anfangsgründe der Entsagung zu begreifen
Wer wirkliche Entsagung kennen lernen will
Muß seinen Sinn von allen Bindungen befrein
In völliger Klarheit ist nichts mehr dunkel und verborgen
Dort hat man keine Stütze, ist von nichts mehr abhängig
Ergibt man sich in den Drei Welten der Zügellosigkeit
Kann man durch alle Vier Geburten keinen Frieden finden
Wer das Nichthandeln übt, alle Geschäfte ruhen läßt
Wandert in Muße und ist wahrhaft glücklich
Nr. 136
Wenn ich mir ansehe, wie manche ihre Sutren rezitieren
Meinen es sei genug, den Wortlaut zu beherrschen
Der Mund bewegt sich, doch ihr Sinn wird nicht bewegt
Ihr Mundwerk und ihr Sinn in ständigem Widerspruch
Ein Wahrer-Sinn tut anderen niemals Unrecht
Ergibt sich nicht der Sinnlichen Begierde
Wenn sie sich doch einmal selbst überprüfen würden
Statt stets in einem anderen den Sündenbock zu suchen
Dann könnten sie vielleicht ihr eigener Meister werden
Wissend, daß es kein "Innen-Außen" gibt
Nr. 137
Von Han Shan stammen diese Zeilen
Worte die niemand glauben mag
Honig ist süß und jeder schleckt ihn gern
Unangenehm zu schlucken ist bittre Medizin
Was ihrer Neigung angenehm, ist ihnen Grund zur Freude
Was ihren Wünschen widerspricht, ruft Haß und Ärger vor
Doch seht euch diese Marionetten an
Nach einem einzgen Auftritt sind sie ausgeleiert
Nr. 138
Der Ärger ist eine Flamme im Herzen
Die leicht ein ganzes Kloster niederbrennt
Du willst dem Bodhisattva-Wege folgen?
Versöhnlichkeit bewahrt dein Wahres-Herz!
Nr. 139
Tausend Leben, zehntausend Tode -
wie lange soll das währen?
Geburt und Sterben, Kommen und Gehen -
von Verblendung in Dunkelheit
Sehen nicht in ihren Herzen
das unschätzbare Juwel
Immer noch wie blinde Esel
trotten ergeben dahin!
Nr. 140
Ein echter Mann und wahrer Held
Der handelt niemals nachlässig
Unbeugsam und mit felsenfestem Sinn
Wählt er die gerade Straße zur Erleuchtung
Er hütet sich vor Abwegen
Denn dort erfährt man sinnlos Müh und Leid
Ohne nach den Früchten der Buddhaschaft zu heischen
Weiß er der Meister seines Sinns zu sein
Nr. 141
Am Han Shan gibt es einen nackten Käfer
Mit weißem Leib und schwarzem Kopf
Der hält zwei Schriften in der Hand
Eine vom Weg und eine von der Tugend
Wo er sich niederläßt baut er nicht Herd und Kessel auf
Reist er umher, schleppt er keine Gewänder mit
Doch schwingt er stets das scharfe Schwert Erkenntnis
Den Räuber Sinnliche Begierde will er schlagen
Nr. 142
In meiner Nachbarschaft gibt es ein Wohnhaus
Das keinen richtigen Hausherrn hat
Ein Grashalm nur sprießt auf dem Fußboden
An dem ein einzelner Tautropfen hängt
Die Sechs Räuber hat eine Feuersbrunst verzehrt
Vom Wind verweht sind die schwarzen Wolken der Lust
Gib acht, wenn du nach einem Wahren Menschen suchst
Die echten Perlen sind in Sackleinen gehüllt
Nr. 143
Willst du ein Sinnbild wissen für Leben und Tod
So nimm zum Beispiel Eis und Wasser-
Wasser erstarrt und wird zu Eis
Eis schmilzt und wandelt sich zurück in Wasser
Was einmal starb muß sicher wieder leben
Und was geboren ward das kehrt zurück zum Tod
Wasser und Eis die tuen sich nicht weh
Ins Leben wie zum Tod zu kehren ist beides gut!
Nr. 144
Über dem Gipfel des Han Shan
einsame Mondscheibe
Durchleuchtet das transparente All
da gibt es kein einziges Ding
Halte in Ehren das natürliche Juwel
von unschätzbarem Wert
Das verborgen liegt in Fünf Eigenschaften
eingesunken ins Fleisch
Nr. 145
Auch die Fünf Gipfel sind nichts anderes als Staub
Sumeru ist ein Berg von einem Zentimeter Höhe
Der große Ozean ist bloß ein Tropfen Wasser
Mit einem Atemzug ziehst du sie in den Wesensgrund
Wir wachsen alle als des Bodhi-Baumes Samen auf
An jedem Ort befindet sich des Himmels Zentrum
In Worten seid ihr alle Anhänger des WEGES
Gebt acht, daß ihr euch nicht in die Zehn Bindungen verstrickt
Nr. 146
In meiner Hütte gibt es eine Grube
Und in der Grube da ist einfach Nichts
Fleckenlos rein, von erhabener Leere
Herrlicher Glanz, heller als Sonnenschein
Ein Mahl von Gemüse erhält diesen nichtigen Körper
Grobes Leinenkleid umhüllt meine Schein-Substanz
Laßt ihr auch tausend Heilige vor mir erscheinen
Ich habe das himmlische Buddha-Wesen
Nr. 147
Grüner Wildbach - Klar der Quelle Wasser
Kalter Berg - Weiß des Mondes Hof
Schweigende Erkenntnis, der Geist von selbst erleuchtet
Die Leere schauend, geht Wahn in Stille über
Nr. 148
Nun habe ich nur noch ein einziges Kleid
Das ist nicht aus Gaze und auch nicht aus Seide
Solltet ihr fragen: Was ist seine Farbe?
Es ist weder lila noch rot
Im Sommer trage ich es als ein Hemd
Nehm es im Winter mir zur Decke
Des Winters wie des Sommers brauche ich es abwechselnd
Jahrein und jahraus - Nur dies!
Nr. 149
Den Mann vom Kalten Berg
Wird es für immer geben
Er ganz alleine lebt
Ohne Geburt und Tod
Nr. 150
Hast du die Han Shan Gedichte im Haus?
Sie sind besser für dich als Sutren-lesen
Auf einen Wandschirm schreibe sie dir
Wirf ab und zu einen Blick darauf!