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Das deutschsprachige Haiku

Imma von Bodmershof (1895-1982)

Rainer Maria Rilke (1875-1926)

 

Sabine Sommerkamp
Die deutschsprachige Haiku-Dichtung
Von den Anfängen bis zur Gegenwart


September 1920 schreibt Rainer Maria Rilke aus Genf:

Kennen Sie die kleine japanische (dreizeilige) Strophe, die "Hai-Kais" heißt? die (sic) Nouvelle Revue Francaise bringt eben Übertragungen die­ser in ihrer Kleinheit unbeschreiblich reifen und reinen Gestaltung ...1

Adressatin des Briefes, in dem Rilke seine "Entdeckung" des Haikus bekundet, ist Gudi Nölke. Wenige Tage später, vom 17. bis 20. September, ist er bei im Chalet Wartenstein zu Gast, diskutiert mit ihr und ihrer japanischen Gesellschafterin Asoka Matsumoto über das Haiku, das für ihn „ein neuer und wertvoller Bewußtseinsinhalt"2 wird.

Kleine Motten taumeln schaudernd quer aus dem Buchs;
sie sterben heute abend und werden nie wissen,
daß es nicht Frühling war. 3

Dieses eines von insgesamt drei überlieferten Haiku Rilkes, gehört zu den frühen isolierten Einzelbeispielen, die dem japanischen Dreizeiler im deutschsprachigen Raum kompositorisch Bahn brechen. Ihren eigentlichen Anfang nimmt die deutschsprachige Haiku-Dichtung erst in den 60er Jahren. Doch werfen wir einen Blick zurück und fragen nach allerersten Beispielen deutscher Haiku und den sie bestimmenden Einflußfaktoren.



I. Frühe Einzelbeispiele deutschsprachiger Haiku

Deutsche Haiku gibt es seit etwa 90 Jahren.4 Zunächst vereinzelt, dann lange Zeit keine, dann wieder mehr, seit dem Zweiten Weltkrieg kontinuierlich in sprunghafter Zunahme. Eine genaue Kennzeichnung dieser frühen deutschsprachigen "Haiku-Ära" kann aus folgenden Gründen jedoch nur eine ungefähre sein: Erstens ist ein Großteil der Quellen noch nicht gesichtet zum Beispiel vieles, was im Privatdruck oder vereinzelt in Zeitschriften erschien; zum anderen konnte bislang keine genaue Abgrenzung der Einflüsse japanischer Kurzformen, die unter anderem über das Englische und Französische liefen, von den eigenen Traditionslinien vorgenommen werden. Der Impressionismus, der von Frankreich seinen Ausgang nahm und sich in allen Bereichen der Kunst manifestierte, die allgemeine Japan-Begeisterung um 1900 und nicht zuletzt die politische Lage nach dem Sieg Japans im russisch­japanischen Krieg 1904/05 weckten in Deutschland ein Gefühl geistiger Affinität und Identität, das unter anderem zur literarischen Nachahmung anregte. Diese Übereinstimmung in künstlerisch-ästhetischer Hinsicht erschwert jedoch die Beurteilung eventueller Anregungen durch Tanka und Haiku in den vom Impressionismus verstärkt gepflegten lyrischen Kurzformen.
Die Kenntnis japanischer Dichtung und direkte Einflüsse lassen sich bei einzelnen Lyrikern seit etwa 1890 nachweisen. Die ersten "selbständigen“ deutschen Haiku sind in der 1898 erschienenen Gedichtsammlung "Polymeter" von Paul Ernst (1866-1933) enthalten:

Eine Wasserrose,
Die aus der Tiefe auftaucht.
Kräuselt sich das Wasser. 5

Zu den Lyrikern um 1900, deren Werk Haiku bzw. impressionistische, in sich geschlossene Dreizeiler enthält, gehören unter anderem Peter Altenberg (1859-1919), Alfred Mombert (1872-1942) und Arno Holz (1863-1929), der vorübergehend zusammen mit Paul Ernst an der Erneuerung der lyrischen Formen arbeitete:

Die Gluth erlischt
am Himmel
leise
ziehn die ewigen Sterne auf.6

Die französische, über den Impressionismus einfließende „Hai-Kai“-Mode zeigte sich Anfang der 20er Jahre außer bei Rilke unter anderem im Werk von Franz Blei (1871 – 1942) und Ivan Goll (1891 – 1950), die teils verspielte, teils sentimentale Dreizeiler verfaßten:


Hast du so sehr geweint?
Nach zwanzig Jahren Abschied
Regnet es noch. 7

Klabund, der in seiner bekannten Literaturgeschichte französische Haiku aus der Zeit um 1920 aufnahm, nennt diese Gedichte „Imitationen des lyrischen Stils der Japaner“8. Formal und inhaltlich ist den in dieser Zeit entstandenen Dreizeilern generell die wenig profunde Haiku-Kenntnis ihrer Autoren abzulesen. Lediglich Rilke kommt dem Zen-Gehalt des japanischen Vorbildes nahe, wie auch folgendes, wenige Wochen vor seinem Tod entstandene Haiku zeigt:

Entre ses vingt fards
elle cherche un pot plein:
devenue pierre.9

Einen höheren Bekanntheitsgrad gewann das Haiku in Deutschland durch zwei Publikationen von Franz Blei und Ivan Goll. In seiner 1925 erschienenen Schrift „Haikai" definiert Blei das Haiku als ein „Bildchen im kleinsten Raum mit einem pointierten Akzent in der dritten oder auch schon in der zweiten Zeile"10 und erläutert seine theoretischen Aussagen durch selbst verfaßte Beispiele. Goll kennzeichnet das Haiku in seinem 1926 publizierten Aufsatz „Zwölf Hai-Kai's der Liebe" als „lyrisches Epigramm, das in möglichst wenigen Worten ein möglichst intensives Bild und weites Gefühl"11 vermitteln soll.
Es ist wahrscheinlich, daß die zitierten frühen Haiku-Versuche wie auch die beiden Aufsätze von Blei und Goll zur Verbreitung des japanischen Dreizeilers beitrugen und „sein Vordringen in die bündische Jugend zwischen den Weltkriegen
mit bewirkten"12. Aber „durch die nationalsozialistische Ideologieliteratur erstickten die Anfänge des Umgangs mit den kleinen Gedichten.“13

 

II . Kräftigende Impulse für die deutsche Nachkriegslyrik

Die Zeit des Zweiten Weltkriegs ist für das deutschsprachige Haiku wenig ergiebig.14 Erst nach 1945 wird der japanische Dreizeiler literarisch wieder attraktiv und leitet in der Folge den Beginn einer autonomen deutschsprachigen Haiku-Dichtung ein.
Begünstigt wurde ihr Entstehen auf breiter Basis durch die Haiku-Adaption führender Nachkriegslyriker, wie etwa Günter Eich:

Vorsicht

Die Kastanien blühn.
Ich nehme es zur Kenntnis,
äußere mich aber nicht dazu.15

Der Haiku-Einfluß in der Dichtung Eichs, der auch japanische Haiku ins Deutsche übersetzte, macht sich in den Werken anderer, die deutsche Nachkriegslyrik prägender Autoren, wie Paul Celan, Helmut Heißenbüttel, Eugen Gomringer oder auch Bertolt Brecht, in entsprechender Weise geltend:

Der Bauer pflügt den Acker.
Wer
Wird die Ernte einbringen? 16

Bertolt Brecht

Die Frage, ob es sich dabei um direkte oder indirekte, über andere literarische Einflüsse bewirkte Haiku-Adaption handelt, läßt sich aufgrund der Parallelentwicklungen und Wechselwirkungen einer zunehmend internationalen Literatur vielfach nicht eindeutig beantworten.17 Tatsache ist jedoch, daß derartige Haiku-Momente im Werk einflußreicher Autoren der deutschen Lyrik auf breiter Basis im Hinblick auf konzentrierte Kürze, Objektivität, Unmittelbarkeit Symbolgehalt und Bildlichkeit kräftigende Impulse zuführen.
Die Gründe für das wachsende Haiku-Interesse nach dem Zweiten Weltkrieg sind im wesentlichen in drei Aspekten zu sehen. Erstens herrschte ein hoher „Nachholbedarf " der deutschen Lyrik, zweitens lenkte die “literarische Unsicherheit" der Lyriker der Kriegsjahre und die überall spürbare Geschichtslosigkeit den Blick gen Fernost, und drittens begünstigte die Flut von Übersetzungen ausländischer Literatur die stilistische Adaption des japanischen Dreizeilers.

 

III. Deutschsprachige Haiku-Übersetzungen:
Ein Überblick

Von den frühesten deutschen Übertragungen japanischer Lyrik (1894)18 hat keine die wenigen erstmals auftauchenden Haiku direkt beeinflußt, denn diese Übersetzungen legten den Akzent auf altjapanische Lyrik und Tanka. Für den deutschsprachigen Raum wurde das Haiku erst nach 1900 richtig erschlossen. Quelle für die frühen deutschsprachigen Haiku waren wie im Falle Rilkes französische Übertragungen bzw. Übersetzungen aus dem Englischen.
Außer Karl Florenz' populären, bis in die 30er Jahre wirkenden Dichtergrüßen aus dem Osten (1894), in denen das Haiku als gereimter Vierzeiler übertragen ist, sind an frühen Übersetzungen unter anderem Hans Bethges Japanischer Frühling (1911)19 zu nennen sowie die damals bekannteren Übertragungen von Paul Enderling, Julius Kurth und Otto Hauser. Ferner Michel Revons vielgelesene Anthologie de la littdrature jaonaise des origines au XXe siecle (1910) 20, die, von dem Schriftsteller Paul Adler erweitert und aus dem Französischen übertragen, 1926 auf deutsch erschien, Wilhelm Gunderts bis heute gültige Literaturgeschichte Die japanische Literatur (1929)21, die große englische Haiku-Anthologie von Miyamori Asatarô An Anthology of Haiku Ancient and Modern (1932)22 und die beliebten Übertragungen Paul Lüths Frühling, Schwerter, Frauen (1942)23.
Zu den nach dem Zweiten Weltkrieg bis heute vielgelesenen „Haiku-Dolmetschern" gehören unter anderem Werner Helwig, Wortblätter im Winde (1954) 24, Manfred Hausmann, Liebe, Tod und Vollmondnächte (1951)25 , Gerolf Coudenhove, Vollmond und Zikadenklänge (1955)26, Japanische Jahreszeiten (1963)27 , Günther Debon, Im Schnee die Fähre (1955)28 , Erwin Jahn, Fallende Blüten (1968)29 , Dietrich Krusche, Haiku (1970)30 und Jan Ulenbrook, Haiku: Japanische Dreizeiler (1979)31. Besonderer Erwähnung bedürfen die 1939 erstmals herausgegebenen, alle paar Jahre neu aufgelegten Übersetzungen der Wiener Sinologin und Japanologin Anna von Rottauscher, Ihr gelben Chrysanthemen. Japanische Lebensweisheit: Haiku-Dichtung.32 Denn dieser Band mit seinen in unregelmäßigen Versen, einfacher Sprache und Assoziationsreichtum übersetzten japanischen Dreizeilern „dokumentiert in seiner Rezeptionsgeschichte eine der Wurzeln des deutschen Haikus".33

 

IV. Ein Fundament für die deutschsprachige Haiku-Dichtung

Im Zuge einer Neuentdeckung des japanischen Dreizeilers entstehen im ersten Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg gleichzeitig und unabhängig voneinander an verschiedenen Orten durch verschiedene Autoren zahlreiche Nachdichtungen und eigenständige Haiku-Versuche. So unter anderem in Wien, wo sich René Altmann (1929-1978), Hans Carl Artmann (geb. 1921), Andreas Okopenko (geb. 1930) und Hans Weissenborn (geb. 1932) im Freundeskreis seit 1946 dem Haiku widmeten.
1953 erscheint mit Der schmale Weg34 die erste Haiku-Sammlung des niederösterreichischen Autors Karl Kleinschmidt - ein Datum, das den Beginn der deutschsprachigen Haiku-Dichtung erstmals nachweislich markiert. Kleinschmidt, der seine 200 dreizeiligen Gedichte nur im Untertitel und lediglich in Parenthese „Haiku" nennt, dokumentiert eine „tastende", zum Teil noch wenig selbständige poetische Vorgehensweise. Er erfüllt nicht die Versvorgabe des klassischen Siebzehnsilbenmusters (5 / 7 / 5) sondern hält sich formal wie auch inhaltlich stark an seine „Haiku-Quelle", die Übersetzungen Anna von Rottauschers:


Wie ich am Morgen meine Hände
ins Wasser tauch' - es klingt so eigen.
Frühling ... ?35

Karl Kleinschmidt

Aus winterlichem Schnee
ward morgens plötzlich Regen
0 Frühling, bist du da?36

Sampu

Eine dem japanischen Vorbild formal und inhaltlich äquivalente, dennoch aber autonome deutschsprachige Haiku-Dichtung erscheint 1962 unter dem Titel Haiku.37 Autorin ist die österreichische Schriftstellerin Imma von Bodmershof (1895-1982). Wenngleich auch für sie die Übersetzungen Anna von Rottauschers eine „Brücke" zum Haiku waren, kleidet sie fast die Hälfte der 128 nach Jahreszeiten geordneten Gedichte in die klassische Haiku-Form. Im Zuge ihrer eingehenden Haiku-Studien überarbeitet sie später auch die längeren Dreizeiler dieser Sammlung:

... als ich damals die ersten Haiku herausgab, dachte ich noch, es sei erlaubt, mitunter 19 oder sogar 21 Silben (immer nur ungerade Zahlen, die geraden schließen ab, die ungeraden lassen dem Leser den Weg offen) und verwendete bei 60 von 128 Haiku diese Möglichkeit. Indessen bin ich ganz davon abgerückt. In der Zahl 17 ist eine Kraft enthalten, die durch nichts anderes zu ersetzen ist. Unter Preisgabe einiger Nuancen habe ich die längeren Haiku dieses Bandes verkürzt.38

Doch nicht nur die Form, auch der Inhalt ist für die mit Rilke befreundete Autorin zentral, und wie für ihn ist das Bild, das Symbol, ist der dem japanischen Dreizeiler immanente Zen-Gehalt die eigentliche Haiku-Komponente:

... man kann Hailu (sic) überhaupt nicht „machen", sie können einem nur begegnen, es kann nur ein Bild auf einmal durchsichtig werden für das Symbol, und um das allein geht es in meinen Augen.39

Die Kerze verlöscht.
Wie laut ruft die Grille
im dunklen Garten.40

Eine brennende Kerze in der Dunkelheit, im Christentum eng verknüpft mit der Erscheinung Jesu, verbildlicht als ein sich selbst nährendes und damit sich selbst verzehrendes Licht die geistige Erkenntnis. Sie ist ein dem Unter­gang geweihtes Feuer, das Ewigkeitswert trägt.
In vorliegendem Gedicht ist sie bereits im Untergang begriffen, weist ihr Verlöschen auf den tages- und jahreszeitlichen Bezug hin: ihr Zustand entspricht dem Stand der Sonne am Herbstabend. Mit der einsetzenden Dunkelheit werden Stimmen, die zuvor kaum vernehmlich waren, „im dunklen Garten", im Innern des Menschen wach: die äußere Umgebung, die Natur, ist Spiegel des geistigen Raumes.
Wie sich in der Erntezeit des Herbstes die Kraft jahreszeitlichen Wachsens in den sonnengereiften Früchten niederschlägt, offenbart sich die geistige Reife des Menschen in Zeiten des Niederganges. Erst im herbstlichen Dunkel entfaltet die „Lichtfrucht" ihre ganzen Strahlungskraft, wird die Verinnerlichung der Sonne wie das laute Rufen der Grille im nächtlichen Garten vernehmlich.
Dieses Bild stellt das Gedicht in die Reihe traditioneller japanischer Haiku. Vergleicht man es beispielsweise mit Issas verwandtem Dreizeiler, in welchem das nächtliche Weinen der Zikaden mit dem Hinweis darauf, daß auch die Sterne scheiden müssen, relativiert wird, erkennt man das nämliche Wechselspiel von Licht und Schatten. Deutlicher noch kommt es in Bashôs bekanntem Zikaden-Haiku zum Ausdruck, in welchem das Zirpen der Grillen unter der Mittagssonne in die Felsen, in das Dunkel, einzudringen scheint.
Das Verlöschen der Kerze und der Ruf der Grille vorbildlichen in ihrem Verhältnis zueinander den jahreszeitlichen Rhythmus von Systole und Diastole, in welchen der Mensch mit einbezogen, das Licht der Sonne als geistige Kraft „im dunklen Garten" wahrnimmt.41
Haiku, die beiden 1970 bzw. 1980 erschienenen Haiku-Sammlungen42 und Im fremden Garten43 der vielgelesenen Autorin und die poetologische „Studie über das Haiku" ihres Gatten Wilhelm von Bodmershof44 wie auch die Dichtung des mit beiden Autoren befreundeten Hajo Jappe (1903 - ­1988), der 1958 seinen ersten Haiku-Band herausgab, verleihen der noch im Aufbau befindlichen deutschsprachigen Haiku-Dichtung ein festes Fundament.

Durchs zerfallene Dach
reicht mir leis der Wind herein
Kirschblütenzweige.45

Hajo Jappe

 

V. Poetologische Grundpositionen deutschsprachiger "haijin"

Ein repräsentatives Bild der gegenwärtigen deutschen Haiku-Szene bot die am 29. und 30. September 1979 in Bottrop veranstaltete „Erste bundesdeutsche Haiku-Biennale". Ziel dieser ersten größeren Zusammenkunft von etwa 20 Autoren aus dem gesamten Bundesgebiet war es, eigene Kurzgedichte vorzutragen und den Stellenwert des japanischen Haikus für die deutsche Dichtung zu erörtern sowie zu dessen Verbindlichkeitscharakter und Adaptionsmöghchkeiten Stellung zu nehmen.
Eine grundsätzliche Klärung dieser Aspekte war unter anderem durch das Erscheinen der ersten Anthologie der deutschen Haiku (1979)46 notwendig geworden, da diese Anthologie zwar ein breites Spektrum deutschsprachiger Ausprägungen von den Anfängen bis zur Gegenwart vorstellt, unter Verzicht auf eine autoritative stilistische Wertung jedoch gleichermaßen die Frage nach einer maßgeblichen Poetik impliziert. Unklarheit über die „Richtigkeit" der lyrischen Ausgangsbasis herrschte sowohl unter den hierin vertretenen anwesenden Autoren als auch unter den anderen ‚haijin', für die dieses Buch eine vorläufige Orientierungshilfe repräsentiert.
Die Diskussion drehte sich daher in erster Linie um den Grad der poetologischen Angleichung an das traditionelle japanische Haiku. Hier, wie auch anhand der später vorgetragenen Gedichte, lassen sich die einzelnen Beiträge in drei Grundpositionen zusammenfassen, die teilweise ineinander übergehen: in einer partiellen, einer formal und inhaltlichen und in einer rein inhaltlichen Angleichung an den japanischen Dreizeiler.
Für eine partielle Angleichung sprach sich, außer Jürgen Völkert-Marten, unter anderem Peter Coryllis aus, der darauf hinwies, daß das japanische Fluidum, die gedankliche Konzentration des Haikus, der deutschen Dichtung den Weg zu einer neuen Kurzform weise; es ginge nicht darum, den Dreizeiler zu imitieren, sondern diese neue Form auszuprägen, und man müsse daher die Gefahr einer rein formalen Orientierung ausschließen. Er schlage vor, das Haiku im Deutschen als einen poetisch gestalteten Aphorismus mit einer möglichst geringen Silbenzahl zu betrachten.
Dem entgegnete ich, die ich mich für ein formal und inhaltliches deutsches Äquivalent einsetze, daß der Name "Aphorismus" unter Umständen eine subjektive Wertung kennzeichne. Wichtig sei der objektive, allgemeingültige und eindeutige Charakter des Kurzgedichtes, dessen Kern ein zentrales Bild sei. Der Neutralitätswert dieses naturbezogenen Bildes, das im Leser ein plötzliches Erkennen auslöse, sei nicht spezifisch japanisch, sondern übertragbar, da seine Wirkung auf das Unbewußte im Menschen ziele. Entsprechendes gelte für die Anzahl der Silben; die deutsche Sprache sei zwar anders strukturiert als die japanische und folglich die Silbenzählung eine andere, eines sei in Ost und West jedoch konstant: die Dauer eines einzigen Atemzuges, die der Länge von 17 Silben entspräche.
Diesem Standpunkt pflichtete Hans Stilett bei, indem er neben der Bedeutung verbaler Aussparungen der Aussagekraft des Einzelwortes, der Wiederentdeckung „verschütteter Werte" durch die Beschäftigung mit fremdem Kulturgut gleichfalls auf den formalen Wert hinwies. Er selbst versuche diese Angleichung durch einen jambisch-trochäischen Rhythmus und eine rechtsbündige Schreibweise zu erzielen. Ideal sei es, wenn sich, wie bei den großen Musikern, die strenge Form mit der Intensität und Lebendigkeit der Aussage verbände. Die formale Limitierung könne nur den kleinen Geist beengen, für den großen Künstler sei sie eine zusätzliche Forderung, ein ästhetischer Reiz, denn er hätte so viel zu sagen, daß er die Form als Bereicherung empfände, die ein Zerfließen des Kunstwerkes verhindere.
Einspruch gegen eine formale Adaption erhob K. Hülsmann. Einerseits sei es nicht möglich, die sogenannten Regeln auf eine völlig anders strukturierte Sprache zu übertragen, und zweitens gäbe es keine grundsätzlichen Regeln. Im Wort „grundsätzlich" läge der Unterschied zwischen europäischem und asiatischem Denken schlechthin. Bei uns bestünde stets etwas „Grundsätzliches"; diese Haltung sei den Japanern fremd. Im übrigen zeigten die Tendenzen der modernen japanischen Haiku-Dichtung formale Variabilität. In einer zusammenfassenden Stellungnahme einigte sich die Diskussionsrunde darauf, daß Kürze, Prägnanz, Bildlichkeit und die Übermittlung eines verborgenen Sinns verbindliche Kriterien für ein mögliches deutschsprachiges Haiku seien.

Kranichzug am Berg -
sie wissen um Weg und Ziel.
Wohin wandern wir?

Marianne Junghans

Die prächtig flatternden Blätter werden
an den noch verborgenen aber schon
leise knisternden Knospen verenden

Hans Stilett

Vom Hügel der Akropolis herab
der Blick auf die Stadt -
die Götter schweigen, die Menschen leben.

Harald K. Hülsmann

Für die Bottroper Diskussion um eine mögliche deutschsprachige Haiku­Poetik gilt daher, was Harold G. Henderson 1963 über den Charakter des nordamerikanischen Haikus bemerkte:
When it comes to establishing standards for haiku written in English ... it does seem likely that our poets will eventually establish norms of their own. 47

 

VI. Vorbild Nordamerika

Das englischsprachige Haiku, das sich wie das deutschsprachige in den 60er Jahren zu einer vom japanischen Vorbild losgelösten autonomen Lyrikform entwickelte, bietet heute in der westlichen Haiku-Hemisphäre die größte literarische und außerliterarische Heterogenität. Über 20 Haiku-Gesellschaften und –Zeitschriften sorgen gegenwärtig für Pflege und Verbreitung dieses noch jungen Genres,48 der pädagogische Stellenwert des Haikus als „the most commonly taught poetic form in the Primary Schools"49 garantiert einen Grundstock für Aufbau und Bestand der englischsprachigen Haiku-Dichtung, und nicht zuletzt die zentrale Rolle, die sie inzwischen in außerliterarischen Bereichen wie Fotographie, Film, Musik, Tanz und Poesietherapie spielt, all dies trägt dazu bei, daß das Schreiben von Haiku in den USA wie im Mutterland des japanischen Dreizeilers allmählich zu einer populären Art von Volkssport wird.
Fragt man sich, wodurch diese Entwicklung derart begünstigt wurde, las­sen sich global fünf Gründe nennen: die höhere Adaptionsfreudigkeit der Amerikaner gegenüber fremdem Kulturgut, die größere Nähe der haikuaktiven Westküste zu Japan, der vergleichsweise hohe Anteil in den USA lebender Japaner, der starke Einfluß des Haikus über Imagismus und "Beat Poetry" auf die heutige US-Literatur und nicht zuletzt der direkte Kontakt der amerikanischen Besatzungstruppen während des Zweiten Weltkrieges in Japan mit asiatischer Literatur und Zen-Buddhismus.
Gewiß, diese Gründe haben auf die Entwicklung der deutschsprachigen Haiku-Dichtung keinerlei Einfluß. Als Maßstab und Orientierungshilfe bietet uns die Haiku-Situation in Nordamerika jedoch die Möglichkeit, Faktoren zu eruieren, die das deutschsprachige Haiku in entsprechender Weise im hiesigen Literaturboden verankern könnten.
Einer dieser Faktoren wären Gesellschaften zur Pflege und Verbreitung des Haikus sowie regelmäßig erscheinende Publikationen. Blicken wir kurz zurück. - Die erste überregionale, größere literarische Gesellschaft zur Pflege japanischer Kurzlyrik war das 1981 gegründete „Senryu-Zentrum" in Düsseldorf. Die Vereinigung, die 1984 Mitglied der "Federation of International Poetry Association" in Washington wurde und damit assoziiertes Mitglied der UNESCO, zählte ca. 120 in- und ausländische Autoren, deren Beiträge in vier von Carl Heinz Kurz zwischen 1985 und 1987 herausgegebenen Almanachen publiziert wurden.50 Die Effizienz dieses Zentrums erwies sich im Hinblick auf die Popularisierung des Haikus jedoch insofern als gering, als nicht das Haiku, sondern das Senryu im Mittelpunkt der Aktivitäten stand.
Infolgedessen beantragten zahlreiche Autoren nach Auflösung des Senryu-Zentrums im Juni 1988 ihre Mitgliedschaft in der kurz zuvor gegründe­ten "Deutschen Haiku-Gesellschaft e. V" (DHG), Vechta, die sich zwar der Pflege des Senryus wie auch des Tankas und Rengas widmet, ins Zentrum ihrer Aktivitäten laut Satzung jedoch das Haiku stellt:

Die besondere Sorge des Vereins gilt der Bewahrung und Förderung des
eigenständigen Haiku, seiner Verbreitung und Pflege im deutschen Sprachraum.51

Publikationsorgan der Vereinigung, die mit über 80 Mitgliedern etwa ein Fünftel der nachweislich in der Bundesrepublik lebenden Haiku-Autoren vereint52, ist die „Vierteljahresschrift der Deutschen Haiku-Gesellschaft53". Mit ihr existiert nach Einstellen von apropos, Zeitschrift für Kunst, Literatur, Kritik, im Frühjahr 1985 erstmals wieder eine Haiku-Plattform.
Als erstes regelmäßig erscheinendes Forum für die deutschsprachige Haiku-Dichtung präsentierte das in apropos enthaltene „Haiku-Spektrum" von 1981 bis 1985 dreimal im Jahr auf 12 bis 28 Seiten neben Rezensionen, Berichten, Interviews, Interpretationen und Formvergleichen Gedichte von insgesamt 98 "haijin" - 76 deutschsprachigen, 9 japanischen und 13 englisch­sprachigen. Publiziert wurden ferner Tanka, Renga und Senryu sowie Haiku aus der Feder von Schülern. Eine Sonderrubrik, die „Deutsch-englische Haiku-Begegnung" führte deutschsprachige und englischsprachige Autoren literarisch zusammen. Analog zu den skizzierten poetologischen Grundpositionen deutschsprachiger "haijin" lassen sich die in apropos veröffentlichten Haiku in drei große Kategorien teilen, eine Klassifikation, die sich gleichfalls für das nordamerikanische Haiku herauskristallisiert hat 54: in den traditionell orientierten Stil Imma von Bodmershofs und Hajo Jappes, in den freieren, formal ungebundeneren Stil ("liberated haiku"), wie ihn unter anderem Peter Coryllis und Harald K. Hülsmann in Bottrop proklamierten und in den experimentellen Stil nach Art von Hans Stilett,
Georg Jappe,55 oder Roman York.

Auf eines Daches Giebel,
in einer Nische,
nisten zwei Tauben. 56

Günther Klinge

dämmern
im tropfen
an der eichel.57

Finley M. Taylor

rauten-haiku (bayern 1)
blau der himmel weiß
weißblau der himmel blauweiß
weißderhimmelblau 58

Roman York

Ein zweiter Faktor zur Verankerung des deutschsprachigen Haikus ist seine Rolle im Schulunterricht, die im Unterschied zu der in den USA jedoch noch als gering zu bezeichnen ist.59 Zwar findet der japanische Dreizeiler verstärkt Eingang in Lesebücher und Lehrwerke für den muttersprachlichen Unterricht, die mangelnde Haiku-Kenntnis vieler Pädagogen sowie die vergleichsweise kleine Anzahl von Initiativen wie „Autoren an Schulen"60 , die das Haiku illustrativ in die Klassenzimmer tragen könnten, reichen jedoch bei weitem nicht aus, den notwendigen Grundstock für Aufbau und Bestand der deutschsprachigen Haiku-Dichtung zu legen. Hier müßte, zum Beispiel durch Haiku-Gesellschaften oder haikuversierte Pädagogen, aktive Unterstützung geleistet werden. Umso größere Bedeutung kommt einem dritten haikuverankernden Faktor zu, der Verbindung des Haikus mit außerliterarischen Bereichen. Illustriert wird sie im deutschen Sprachraum beispielsweise in den Bereichen lkebana, Fotographie und Musik und hat, wie etwa im Fall von Günther Klinge und Ann Atwood 61, bereits zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit deutsch-amerikanischer Haiku-Produktion geführt.
Die Zusammenarbeit deutschsprachiger ‚haijin‘ mit denen anderer Länder ist ein vierter, wesentlicher Faktor, da das deutschsprachige Haiku auf diese Weise in einen internationalen Kontext rückt. Außer auf Japan und die USA sei insbesondere auf China hingewiesen, wo das seit der Kulturrevolution aus politischen Gründen verpönte Schreiben von Haiku allmählich wieder an Attraktivität gewinnt.
Ein fünfter und letzter für die Verankerung des deutschsprachigen Haikus relevanter Faktor sei genannt: die Beschäftigung mit den Quellen der Haiku­Dichtung. Denn nur so, in der direkten Auseinandersetzung mit den ästhetischen Kriterien des japanischen Vorbildes, gelingt, was Rainer Maria Rilke am Haiku faszinierte: eine „in ihrer Kleinheit unbeschreiblich reife und reine Gestaltung".

Dieser Artikel ist entnommen: Tadao Araki: Deutsch-Japanische Begegnungen in Kurzgedichten.Münschen: Indium Verlag. 1992. ISBN 3-89129-305-4. S. 79-91


 

Andreas Wittbrodt
Das blaue Glühen des Rittersporn.
Die Gründungsphase der deutschsprachigen Haiku-Literatur (1953-1962)

1.
In seiner 1986 publizierten Abhandlung "Deutsche Haiku" hat Kato Keiji die Geschichte des deutschsprachigen Haiku in drei Epochen unterteilt. Die erste Epoche beginne mit Gedichten von Arno Holz und Paul Ernst, und sie ende mit dem Beginn des sog. Dritten Reichs, also 1933. Die zweite Epoche umfasse den Zeitraum vom Ende des sog. Dritten Reichs bis zum Beginn der 1970er Jahre. Die dritte Epoche erblickt Kato in dem Zeitraum vom Ende der 1970er bis zur Mitte der 1980er Jahre, in der auch sein Buch erschienen ist. Margret Buerschaper teilt die Geschichte des deutschsprachigen Haiku in ihrem 1987 publizierten Buch "Das deutsche Kurzgedicht in der Tradition japanischer Gedichtformen" in zwei Abschnitte ein. Für sie endet die erste Epoche ebenso wie für Kato mit dem Ende des sog. Dritten Reichs. Den Beginn der zweiten Epoche datiert sie hingegen auf das Jahr 1953, in dem Karl Kleinschmidts Buch "Tau auf Gräsern" erschien. Diese Datierungen sind nun nicht ganz unproblematisch.

Zunächst beginnt die deutsche Haiku-Literatur, ein generell weitverbreiteter Irrtum, nicht mit Arno Holz und Paul Ernst. In welcher Form sich die beiden Autoren auch immer mit japanischer Kunst und Literatur beschäftigt haben mögen - Haiku haben sie nicht geschrieben. Kato beruft sich in seinen Ausführungen im wesentlichen auf die Argumentation Ingrid Schusters in ihrem 1977 publizierten Buch "China und Japan in der deutschen Literatur" sowie auf die 1978 erschienene "Anthologie der deutschen Haiku" von Sakanishi H[achiro]. Jedoch halten – was hier freilich nicht im Einzelnen belegt werden kann - weder die Argumentation von Schuster noch die Edition von Sakanichi einer Überprüfung stand. Tatsächlich beginnt die deutsche Haiku-Literatur, sieht man von unbekannt gebliebenen oder ungedruckten Haiku ab, mit Gedichtfolgen von Franz Blei, Yvan Goll und einigen Einzelgedichten von Rainer Maria Rilke, alle in den 1920er Jahren geschrieben.

Allerdings trifft es zu, das Ende der ersten Epoche des deutschen Haiku auf den Beginn des sog. Dritten Reichs zu datieren. Der "Zivilisationsbruch" (Dan Diner), den der Nationalsozialismus bedeutete, beinhaltete in gewisser Hinsicht auch den Bruch mit der japanischen Kultur. Die zweite Epoche der deutsch­sprachigen Haiku-Literatur mit Karl Kleinschmidts Buch "Der schmale Weg" von 1953 beginnen zu lassen, ist ebenfalls plausibel. Wohl hat man schon zuvor deutsche Haiku geschrieben, doch sind sie in jener Zeit entweder, in entlegenen Publikationen gedruckt, ohne Wirkung geblieben, oder sie wurden erst später veröffentlicht. Ob sich Anfang der 1970er Jahre tatsächlich eine Zäsur in der deutschen Haiku-Literatur beobachten läßt, mag hier dahingestellt bleiben. Ein gravierenderer Einschnitt zeichnet sich jedenfalls, vom heutigen Standpunkt aus betrachtet, Mitte der 1980er Jahre ab: als aus der Gruppe der Autoren, die sich bis dahin um die Zeitschriften "apropos" und "Das Senfkorn" geschart hatte, die bis heute bestehende "Deutsche Haiku-Gesellschaft" hervorgegangen ist.

Insgesamt spricht viel dafür – auch dies kann hier leider nicht im einzelnen gezeigt werden -, die Zeit von Karl Kleinschmidts Buch "Der schmale Weg" bis zur Gründung der "Vierteljahresschrift" der Deutschen Haiku-Gesellschaft als eine Epoche innerhalb der deutschsprachigen Haiku-Literatur zu betrachten. Bei genauerem Hinsehen läßt sich diese Epoche dann noch einmal unterteilen, und zwar in die Zeit von, um einmal präzise Daten zu nennen, 1953 bis 1962, dem Veröffentlichungsdatum von Imma von Bodmershof Buch "Haiku", und die Zeit von 1962 bis 1987, sozusagen einerseits die Gründungsphase und andererseits die Konsolidierungsphase. Im Folgenden steht nun die Gründungsphase der deutschen Haiku-Literatur im Mittelpunkt, also die Zeit von 1953 bis 1962. Dabei wird versucht zu zeigen, daß und wie das Haiku nicht gleichsam an sich in die deutsche Literatur übernommen, sondern an bereits etablierte deutsche Literaturtraditionen assimiliert wurde.

 

2.
Die deutsche Haiku-Literatur der Nachkriegszeit begann nicht an einem Null­punkt. Den Anstoß dazu gab die erstmals 1939 publizierte Anthologie "Ihr gelben Chrysanthemen" der Sinologin Anna von Rottauscher. Von den ca. 220 Haiku-Überset­zungen, die das Buch enthält, stammen rund ein Viertel von Matsuo Basho. Darüber hinaus sind Kobayashi Issa, Yosa Buson, Masaoka Shiki sowie auch Takarai Kikaku mit einer größeren Anzahl von Gedichten vertreten. Jedem dieser Gedichte hat Rottauscher eine Überschrift vorangestellt. Angeordnet hat Rottauscher die Haiku-Übersetzungen in vier Kapiteln, von denen jedes einer der vier Jahreszeiten entspricht. In dieser Hinsicht folgt die Übersetzerin einer durch das "Kokinshu" begründeten japanischen Tradition. Die Form der Haiku in "Ihr gelben Chrysanthemen!" variiert sehr. Zum einen, der eine Extremfall, findet man Übersetzungen, die nur aus neun Silben bestehen, wie etwa die eines Haiku von Kakei:

Der Efeu
rauscht
im herbstlichen Wind.

Zum anderen, der andere Extremfall, findet man Übersetzungen, die aus 28 Silben bestehen, wie etwa die eines Haiku von Soin:

"Die sommerliche Hitze war's, die mich so schmal gemacht",
so sagt' ich…
doch Tränen liefen über meine Wangen.

Schließlich hat Rottauscher den Übersetzungen ein für die damalige Zeit vergleichsweise informatives Nachwort mitgegeben, in dem sie über die Geschichte der Gattung an sich und die Besonderheit einzelner Autoren informiert. Nimmt sich das Buch "Ihr gelben Chrysanthemen!" nun äußerlich wie eine ganz normale Anthologie mit Haiku-Übersetzungen aus, so hat es damit doch eine besondere und bislang, soweit man die Anthologie überhaupt zur Kenntnis genommen hat, unbekann­te Bewandtnis: "Ihr gelben Chrysanthemen!" hat nicht nur Teil an der deutschen Übersetzungsliteratur, sondern auch an der Literatur der Inneren Emigration. Aufgrund der Zugehörigkeit der Anthologie zur Literatur der Inneren Emigration ist die darin geleistete Vermittlung der Haiku und Vorstellung der Haiku-Autoren in einer besonderen Wiese gefärbt bzw. perspektiviert: Zunächst rückt Rottauscher die japanische Haiku-Lyrik in die Tradition der Naturlyrik ein, wie sie für die zumeist literarisch und kulturell konservativen, nicht selten christlichen Autoren der Inneren Emigration typisch war. Zu diesen Autoren gehören etwa, um nur die beiden bedeutendsten zu nennen, Oskar Loerke und Wilhelm Lehmann. In ihrer Literatur und zumal in ihrer Lyrik stellten die Inneren Emigranten, um es mit einem Wort zu sagen, dem Leben in und mit der korrupten nationalsozialistischen Gesellschaft die "Heile Welt" der Natur sowie das Leben in und mit ihr entgegen. Wie Rottauscher einerseits das Haiku der Naturlyrik assimiliert hat, so hat sie andererseits die Lebensform der Haiku-Autoren zur Lebensform der Inneren Emigranten stilisiert. Vor allem Matsuo Basho, von Rottauscher ausdrücklich als "Dichtermönch" bezeichnet, erscheint in ihrer Darstellung als naturzugewandte - und damit weltabgewandte - Persönlichkeit. "Als echter Haiku-Mensch", so heißt es an der im vorliegenden Zusammenhang entscheidenden Stelle, "fühlte er sich eins mit der Natur".

Obwohl die Anthologie "Ihr gelben Chrysanthemen" japanische Lyrik ins Deutsche vermittelt, besteht darin doch nicht ihr eigentlicher Zweck. Im Grunde genommen dient die japanische Lyrik Rottauscher weniger als "Bezugsgröße und Norm" der Vermittlung denn als deren "Material." Der eigentliche Zweck des Buches besteht darin, mit Hilfe der Haiku-Literatur und des haijin-Ideals (diskret) gegen ein totalitäres Regime zu opponieren. Rottauschers Anthologie ist im vorliegenden Zusammenhang nun darum so bedeutend, weil sich, soweit zu sehen ist, die Autoren, die einen Beitrag zur Gründungsphase des deutschen Haiku leisteten, im wesentlichen daran orientierten. Sie haben das japanische Haiku nicht an sich übernommen, sondern jeweils dreizeilige Lyrik

 

3.
Zu diesen Autoren gehört zunächst der bereits mehrfach erwähnte Karl Kleinschmidt, selbst auch ein Autor aus dem Umkreis der Inneren Emigration. Zwar hat Kleinschmidt nirgends ausdrücklich auf die Anthologie Rottauschers hingewiesen, doch liegt die Abhängigkeit von ihr auf der Hand. Insgesamt sind in seinem Buch "Der schmale Weg" sechs Haiku-Folgen enthalten. Die erste Folge, "Wechsel der Monde", hat unterschiedliche Naturphänomene wie etwa eine blühende Blume oder heraufziehenden Regen zum Thema. Unter dem Titel "Kranz des Jahres" findet sich sodann eine aus 44 Gedichten zusammengesetzte Folge, in der Kleinschmidt, in diesem Falle offenkundig an der japanischen Tradition orientiert, den Wechsel der Jahreszeiten einzufangen sucht. Der nachfolgende Reigen, "O Herz!" betitelt, mit 16 Gedichten vergleichsweise kurz, enthält Liebes–Haiku. In der vierten Haiku-Reihe, "Weibliche Weise", mit zehn Gedichten die kürzeste des ganzen Buches, betrachtet Kleinschmidt das Leben durch die Augen einer Frau. In der vorletzten Folge, "Bruder Tier" überschrieben, stellt er die Tierwelt in den Vordergrund, angefangen von der Ameise über den Igel und das Reh bis hin zur Wasserjungfer. In der sechsten und letzten Haiku–Folge schließlich präsentiert der Autor unter dem Titel "Ewiger Augenblick" eine Reihe von Erfahrungen, deren Gemeinsamkeit darin besteht, daß sie, in mehrerlei Bedeutung des Wortes, in einem Augenblick gemacht wurden. Diese Themen sind ersichtlich von der deutschen Tradition geprägt. Voneinander getrennt werden diese sechs Reihen jeweils durch mehrstrophige, gereimte Naturgedichte in ebenfalls ersichtlich deutscher Tradition. Titel wie etwa "Sichelmond", "Herbstgarten" oder auch "Ferne Flöte" lassen die Zugehörigkeit der Gedichte zur zeitgenössischen Naturlyrik unmittelbar erkennen.

Ebenso wie diese Gedichte gehören nun auch die in "Der schmale Weg" enthaltenen Haiku der deutschen Naturlyrik an. Beispielhaft dafür sind die folgenden Gedichte:

Tanzt die Vogelscheuche im lauen Wind?
Sanft haucht sich auf ihre Schulter
ein Schmetterling hin!

Der alte Gärtner wollte die Rose noch blühen sehn.
Er starb.
Nun blüht sie – schön wie noch nie.

Durch den goldenen Morgendampf
klirren die Schreie der Hähne. Der Nachbar dengelt:
heute fallen die Ähren.

Trauernde Nonne im Gartenschnee.
Alles, alles rings
ist Schnee…

Der durchgehende Bezug der Gedichte auf eine ersichtlich europäische Flora und Fauna springt ins Auge. Was man in "Der schmale Weg" nahezu vergeblich sucht, sind Haiku in der traditionellen '5-7-5'-Form. In wenigstens drei Viertel aller Fälle übersteigt die Silbenzahl der Gedichte die 17 Silben des schulgerechten Haiku, und in eins damit wird auch die Symmetrie des traditionellerweise aus '5-7-5' Silben bestehenden Gedichts nur selten berücksichtigt. Es ist möglich, daß Kleinschmidt, was die Form der Haiku betrifft, ganz einfach die freien Übersetzungen in der Anthologie Rottauschers imitierte - obgleich die Übersetzerin im Nachwort ihres Buches durchaus über die 'richtige' Form des Haiku aufgeklärt hat. Näher liegt jedoch die Auffassung, daß es Kleinschmidt darauf ankam, den Spielraum zu nutzen, den ihm die freie Handhabung der Form ermöglichte, weil es letztlich in seiner Absicht lag, deutsche Kurzgedichte, und nicht, Haiku zu schreiben. Auch ist unwahrscheinlich, daß Kleinschmidt mit dem Frosch, der im folgenden Gedicht ins Wasser "klatscht", eine Beziehung auf die japanische Literatur herstellen wollte:

Nachdenklich streif' ich am Ufer entlang,
Weidenblätter rühren mir feucht die Stirn –
da klatscht ein breiter Frosch ins Wasser!

Bashos "Furuike ya…" war seinerzeit noch so gut wie unbekannt. Der Autor hat sich vielmehr, wie noch in einigen anderen Fällen, durch eine Übersetzung aus Rottauschers Anthologie "Ihr gelben Chrysanthemen!" zu einem eigenen Haiku anregen lassen (also Literatur aus Literatur hergestellt). Kleinschmidt hat dem Haiku jedoch nicht nur den Stempel der deutschen Naturlyrik, er hat ihm auch den Stempel der deutschen Liebeslyrik sowie der deutschen spirituellen Lyrik aufgedrückt. Schon Herbert Fussy erblickte in den Liebeshaiku Kleinschmidts eine gravierende Abweichung von der japanischen Tradition – d.h. von der japanischen Tradition, wie sie zuvor durch deutsche Übertragungen ins Deutsche vermittelt wurde. Gedichte wie etwa die folgenden findet man in den bis dato bekannten Übersetzungen japanischer Haiku jedenfalls nicht:

Bist du fern, so leb' ich
nur von deinem Licht. Doch nahst du,
geh ich auf darin.

Da ich einen Pfirsich an meine Lippen hebe,
muß ich an deine Wange denken -
und küsse ihn.

Ist in "Der schmale Weg", anders als in dem Gedichtband "Die Hohe Stunde", mit dem Kleinschmidt 1941 debütierte, auch keine explizit christliche Lyrik enthalten, so wird doch auch hier eine spirituelle Dimension spürbar. Am deutlichsten manifestiert sie sich in dem Langgedicht "Triptychon 'Vom Tode'", mit dem Kleinschmidts Buch auch endet. Doch schon der Titel deutet auf diese spirituelle Dimension hin, insofern er sich, ob vom Autor beabsichtigt oder nicht, als Kontrafaktur des Ausdrucks 'Die enge Pforte' auffassen läßt. In den Haiku tritt diese spirituelle Dimension am deutlichsten in dem folgenden Gedicht hervor, mit dem das Buch auch endet:

Einsame Birke, goldenes Laub.
Weiße Wolke im Blauen,
schmaler Weg ins Unendliche.

Bei diesem 'schmalen Weg' hat man wohl an einen Feldweg zu denken, der sich am Horizont verliert, in einem, wie die Farbe der Blätter nahelegt, herbstlich-blauen Abendhimmel. Kleinschmidt verleiht diesem Weg, einem Natur- bzw. Landschaftsphänomen, eine symbolische Bedeutung.

Was ihre Inhalte und ihre Form betrifft, lassen die Gedichte Kleinschmidts kaum Züge des 'klassischen' Haiku erkennen. Als Haiku in einem engeren Sinne erscheinen nur die vergleichsweise wenigen Gedichte, in denen es Kleinschmidt, wie im zuletzt zitierten Haiku, wenigstens einigermaßen gelingt, die von ihm am japanischen Haiku (in deutscher Übersetzung) beobachtete Technik des "Verschweigens und Aussparens" anzuwenden. Gut sichtbar wird das Bemühen des Autors um die Realisierung dieser Technik, wenn man ein Haiku aus dem Buch von 1953 mit dessen überarbeiteter Fassung aus einem weiteren Haiku-Buch Kleinschmidts von 1960 vergleicht. In der ersten Fassung lautet das Gedicht:

Seltsames Bild:
Eine Vogelscheuche
weist mir den Weg in den Himmel.

In der zweiten Fassung lautet es:

Eine Vogelscheuche
weist mir den Weg
in den Himmel.

Die zweite Fassung erweist sich im Verhältnis zur ersten schlechterdings als das überzeugendere Gedicht. Der Autor hat die Ankündigung des 'seltsamen Eindrucks' in der Erstfassung als überflüssig erkannt und gestrichen. Entscheidend für die Wirkung des Haiku ist allein die Wahrnehmung einer Vogelscheuche als der Instanz, die dem Sprecher den 'Weg nach oben' zeigt - in die, wie auch immer im einzelnen zu beschreibende, 'Transzendenz'. Das Gedicht bezieht seinen Reiz aus dem Gegensatz, den die Strohpuppe in sich vereinigt, zwischen der Erhabenheit (genus sublime) der Botschaft und der Volkstümlichkeit (genus humile) ihres Trägers. Freilich sind Kleinschmidt kaum Haiku dieser Art geglückt.

Im Unterschied zu Kleinschmidts Buch "Der schmale Weg" enthält Flandrina von Salis' 1955 veröffentlichtes Buch "Mohnblüten" ausschließlich Haiku. Aus welcher Quelle Salis ihre Kenntnis des japanischen Gedichts bezogen hat, läßt sich zwar nicht mit Sicherheit sagen, doch entspricht ihre Sammlung dem Muster, das durch die Anthologie "Ihr gelben Chrysanthemen!" vorgegeben wurde, in wenigstens zwei Punkten. Zum einen hat Salis vordringlich Jahres­zeitenpoesie geschrieben; einer unbetitelten Reihe von 27 Haiku folgen vier Kapitel, die jeweils Gedichte zu den Jahreszeiten Frühling, Sommer, Herbst und Winter enthalten. Zum anderen tragen die Haiku von Salis wie die Übersetzungen von Rottauscher jeweils eine Überschrift. Im Unterschied zu Rottauscher hat Salis jedoch weitgehend die 5-7-5–Form des japanischen Haiku gebraucht. Liegt der Akzent der Haiku von Kleinschmidt auf der Natur, so liegt er bei Salis auf der Gestaltung von Impressionen und Stimmungen. Repräsentativ in dieser Hinsicht ist das Gedicht "Sommertag":

Weißer Wolkenhauch
Im Himmelsblau verflüchtigt,
- Träume der Sehnsucht.

In diesem Stilzug tritt zudem die spezifische Prägung der Haiku durch die deutsche Literatur anschaulich hervor: In Liebesgedichten wie diesen, von denen das Buch nicht wenige enthält, manifestiert sich der emotive Zug der Gedichte besonders deutlich. Spricht die Autorin den Geliebten unmittelbar an, ist dieses Element der Gedichte nicht selten zugleich mit einem dialogischen Element verknüpft. Dieser Aspekt, der eine ganze Reihe der Gedichte prägt, kann dabei unterschiedliche Formen annehmen. Erzeugt wird das dialogische Moment der Gedichte von Fragen, welche die Autorin an sich selbst richtet, von Anreden an einen Freund oder auch von Anrufungen Gottes. Beispielhaft in dieser Hinsicht ist etwa das Gedicht mit dem bezeichnenden Titel "Sehnsucht":

Wie zur Sonne hin
Sich die Blume kehrt, - so ich
Zu dir, Geliebter.

Diesen im Verhältnis zu den Haiku, wie sie bis dato in die deutschsprachige Literatur vermittelt wurden, subjektiv bzw. dialogisch geprägten Gedichten gegenüber sind objektive Naturdarstellungen wie etwa das folgende Gedicht "Wintertag" spürbar in der Minderzahl:

Bleigrauer Himmel,
Und nichts als eine Möwe
Als silberner Pfeil.

Kommen in Salis Haiku auch mehrmals der Mond und einmal sogar "Kirschblütenblätter" vor, sind die Gedichte doch durchweg als "Abendländische Haiku" zu betrachten, wie sie die Autorin im Untertitel ihres Buches selbst bezeichnet hat. Auch in der Thematik bzw. Motivik der Rose – einer in der traditionellen japanischen Haiku–Lyrik bis zur Moderne unbekannten Blume – zeichnet sich die Zugehörigkeit der Gedichte zur europäisch-deutschsprachigen Literatur deutlich ab. Die Rose bildet überdies gleichsam die Brücke zwischen den weltlichen und den spirituellen Gedichten des Buches. In einem Haiku erahnt Salis im Anblick einer aufblühenden Rose geradezu das Göttliche:

Erblühender Rose
Nie zu fassendes Wunder,
- Göttliches Ahnen.

Ein anderes Gedicht hat sie gleich als "Sommergebet" konzipiert. Offensichtlich wird die Gattung des Haiku auch in Salis' Gedichtbuch, nicht anders und in dieser Hinsicht deutlicher noch als bei Kleinschmidt, von Ausdrucksformen und Themen des christlichen Abendlandes durchdrungen.

 

4.
Die Assimilation des Haiku an die etablierte Naturlyrik, an die etablierte Liebeslyrik sowie auch an die etablierte spirituelle Lyrik ist das Charakteristikum der frühen Haiku-Literatur insgesamt. Im Einzelnen freilich sind die drei Tendenzen unterschiedlich ausgeprägt. So enthält Hajo Jappes erstmals 1959 publizierter Privatdruck "Haiku" im wesentlichen Naturlyrik. Auffällig an diesem Buch ist zunächst die ausschließliche und konsequente Anordnung der Haiku nach dem Prinzip des Jahreszeitenwechsels. So findet man zu Beginn der Sammlung, als Vorbote des Frühlings, blühenden "Krokus" und gegen deren Ende, als Signatur des Winters, einige "Eisblumen". Überdies hält sich Jappe, im Unterschied zu Rottauscher, an die Form des Haiku. Beispielhaft für die Gedichte des Autors sind etwa:

Die Weinstöcke stehn
kahl an den Hängen, die schon
von Blüten schäumen.

Tautropfen, kleinster
wo du da liegst im Grase
blinkt in dir die Welt.

Jappes Orientierung an der Anthologie Rottauschers belegt neben dem 89sten Haiku, dem ersichtlich ein Gedicht Bashos, überdies noch das 15ste Haiku, dem ersichtlich ein Haiku Arakida Moritakes zugrunde liegt. So heißt es bei Jappe:

Welkes Blatt auf dem grünen?
Abstreifen will ich's –
da flattert ein Falter auf.

Rottauschers Übersetzung des entsprechenden Gedichts von Moritake lautet:

Flog da ein welkes Blatt
zurück zu seinem Zweige?
Ach nein! Es war ein Schmetterling!

Jappe hat nur den bunten Schmetterling Arakidas, der den Sprecher zur Wahrnehmung einer Blüte veranlaßte, durch einen Falter ersetzt, der sich durch seine Farbe und Zeichnung als Blatt und nicht mehr als Blüte 'tarnt'. Immerhin hat Jappe zugleich mit dem Bezug auf das japanische Haiku zumindest dem Grundsatz nach auch jene von Kleinschmidt so genannte 'Kunst des Aussparens' übernommen.

Sieht man von der Form an sich ab, lassen die 35 Gedichte, die Bernhard Doerdelmanns 1960 publiziertes Buch "Es segelt der Mond durch die rötlichen Wolken" enthält, keinen Bezug zur japanischen Kultur erkennen, und sei er noch so vermittelt. Bei seiner Lyrik handelt es sich teils um Liebesgedichte, teils um Gedichte, die sich am besten als naturbezogene Gedankenlyrik z.T. spiritueller Prägung charakterisieren lassen. Anschauliche Beispiele, insofern sie alle genannten Tendenzen in sich vereinigen, sind die folgenden:

Wolke am Himmel,
entfliehst Du in Fernen nun,
so nimm mich mit Dir…

Licht der Laternen –
leuchte nicht immer schon nachts,
dem Tag Dich zu weihn.

Endlose Nächte –
ist doch jeder Morgen schon
Beginn jeder Nacht!

Samtener Tau fällt
nieder auf dürstendes Gras –
zärtliche Liebe.

Insofern "Es segelt der Mond…" keine Jahreszeitenpoesie enthält und die Natur nur insofern eine Rolle spielt, als allgemeine Lebensbetrachtungen daran geknüpft werden, hat Doerdelmann im Grunde genommen nur die Form des Haiku übernommen, ohne darüber hinaus an dessen Tradition anzuknüpfen. Und auch die blanke Form hat er, wie das zitierte Beispiel erkennen läßt, zum Teil an die deutsche Literatur assimiliert: mehrmals sind die Haiku in "Es segelt der Mond…" zu Langgedichten verschmolzen.

Daß es dem Autor selbst auch gar nicht auf eine Anknüpfung an die japanische Kultur ankam, geht indirekt aus seinem Nachwort hervor. Darin erklärt er an der betreffenden Stelle, mit dem Gebrauch der japanischen Gedichtformen die Absicht verfolgt zu haben, in einer "Zeit der Formlosigkeit" auf "strengste Formen" zurückzugreifen - worin man kaum einen Bezug auf Japan, dafür jedoch eine kulturkonservativ motivierte Stellungnahme gegen die moderne zeitgenössische Lyrik in freien Versen erblicken kann. Offenkundig hat Doerdelmann die Lyrik des Ostens aufgegriffen, um damit, auch dieses Verhalten hat Tradition, gegen den 'Westen' zu opponieren.

Im Unterschied zu Doerdelmann präsentiert Heinz Helmerking in seiner 1961 publizierten Sammlung "Ewiger Augenblick" wieder Haiku in Gestalt von Jahreszeitenpoesie. Freilich kann man sich des Eindrucks nicht verwehren, als ob Helmerkings Gedichte weniger Naturerscheinungen präsentieren als Naturklischees repräsentieren. Illustrativ in dieser Hinsicht ist das folgende Gedicht:

Endlich erfüllen
Sich Sommer und Sehnsucht: im
Seerosenschimmer.

Die mehrfache 'S'-Alliteration wirkt äußerst bemüht, und "Seerosenschimmer" ist ein Wortungetüm, ähnlich wie "Fernwetterleuchten", "Septembernächtlich" und "Krähengebrandmarkt" auch. Aus welcher Quelle Helmerking das japanische Kurzgedicht auch immer kennengelernt haben mag – die 'Japanität' seiner eigenen Haiku erschöpft sich ähnlich wie bei Doerdelmann in deren äußerer Form. Auch die von Kleinschmidt so bezeichnete Technik des 'Verschweigens und Aussparens' bzw., in anderen Worten, die für das traditionelle Haiku charakteristische Technik der Evokation tritt in den Gedichte nicht hervor.

 

5.
Können die Gedichte von Kleinschmidt, Salis, Jappe, Doerdelmann und Helmerking künstlerisch kaum oder nur in sehr wenigen Einzelfällen überzeugen – mit den 1962 publizierten Haiku von Imma von Bodmershof, auch sie im übrigen eine Autorin der Inneren Emigration, verhält es sich anders. Ihr ist es, soweit man sehen kann, erstmals gelungen, das ästhetische Potential des japanischen Kurzgedichts auch in der deutschen Literatur zu realisieren. Nicht ohne Grund hat der Germanist Erwin Jahn, lange Zeit in Japan ansässig und auch mit der japanischen Haiku-Literatur gut vertraut, Bodmershofs 1962 erschienenes Buch "Haiku" in einer Rezension enthusiastisch als etwas in der deutschen Literatur "ganz Neues" und "Einzigartiges" gefeiert.

Im vorliegenden Zusammenhang sollen die Besonderheiten der Gedichte Bodmershofs zumindest im groben Umriß verdeutlicht werden. Bekannt geworden mit dem Haiku ist Bodmershof ihrer eigenen Auskunft nach durch die Anthologie Rottauschers. Hält man zwei motivisch verwandte Gedichte aus Rottauschers Buch "Ihr gelben Chrysanthemen" sowie aus Bodmershofs Buch "Haiku" einander gegenüber, springt die vergleichsweise enge Verwandt­schaft, die zwischen den Gedichten der beiden Autorinnen besteht, sogleich ins Auge:

Dreh dich nur weiter, Mühlrad!
Nur wenn du rastest
wird das Wasser zu Eis!

Das alte Mühlrad
vom Wasser hell übersprüht -
es dreht sich wieder.

Wie dieses Beispiel gut erkennen läßt, hat sich Bodmershof zumal in sprachstilistischer Hinsicht an Rottauschers Vorbild orientiert. Nennenswerte Unterschiede werden allein auf der Ebene der Form sichtbar. Folgen auch nicht alle Gedichte in "Haiku" strikt dem schulgerechten Muster '5-7-5', so bildet es doch deren "formale Grundlage". Alles in allem hat Bodmershof Haiku geschrieben und nicht allein, wie vor ihr zumal Kleinschmidt, deutsche Kurzgedichte in drei Zeilen.

Insbesondere zeichnen sich Bodmershofs Haiku durch einen künstlerisch überzeugenden Sprachstil, klare Gedankenführungen und motivierte Verspausen aus. Als erstes Beispiel mag das folgende Gedicht aus dem Kapitel "Frühling" dienen:

Steh vor dem Abgrund -
Ein Regenbogen allein
spannt sich darüber.

Das Gedankengefüge, aus dem sich das Haiku zusammensetzt, besteht aus drei Teilen, wobei jeder dieser Teile einem Vers zugeordnet wird. Rechnet man die Auslassungen (Elisionen) hinzu, besteht der erste Vers aus einem vollständigen Satz. In diesem Satz präsentiert die Sprecherin sich und ihre aktuelle Lage. Sie steht vor einem Abgrund, den man im Kontext des Gedichts sowohl buchstäblich wie auch übertragen verstehen kann. Die durch den Gedankenstrich besonders betonte und darum gravierende Pause nach dem ersten Vers ermöglicht dem Bild, das darin evoziert wird, dessen anschauliche Entfaltung. Zu den Konnotationen dieses Bildes gehören Vorstellungen wie 'Raum', 'Weite' und 'Entfernung'. Was der Abgrund trennt bzw. dessen Ränder verbindet, bleibt dabei zunächst – effektvoll - offen.

Im zweiten und dritten Vers wird die Situation dann weiter präzisiert: Der Abgrund wird allein durch einen Regenbogen überbrückt, bzw. die beiden Seiten des Abgrundes sind nur durch einen Regenbogen miteinander verbunden. Die Vorstellung der Schlucht, deren beide Seiten durch einen Regenbogen verbunden werden, ist zweifellos eindrucksvoll, sowohl im buchstäblichen Sinne, als Naturvorstellung, wie auch im übertragenen Sinne, etwa als spirituelle Vorstellung. Der Eindruck von Räumlichkeit und Weite wird durch die Vorstellung eines Regenbogens, insofern man ihn nur in einer mehr oder weniger großen Perspektive ins Auge fassen kann, noch verstärkt. Indem Bodmershof das Wort 'allein' an den Versausgang plaziert, wird die Tatsache, daß der Abgrund ausschließlich von einem Regenbogen überbrückt wird, mithin von einem Gebilde, wie es sich fragiler kaum denken läßt, noch betont.
Im letzten Vers wird der Gedanke des Gedichts dann vervollständigt. Die Pointe des Haiku gibt insofern viel zu denken, als sie die Frage aufwirft, was das für ein Abgrund sein mag, der nur durch einen Regenbogen überbrückt wird – überbrückt werden kann? –, und welche, paradox formuliert, 'unstoffliche Substanz' dazu imstande sein mag, über diese Brücke an das andere Ufer zu gelangen. In der biblischen Literatur bewanderte Leser mögen sich hier erinnert fühlen an den Regenbogen als das Symbol von Gottes Bund mit den Menschen und allem, was mit ihnen auf der Welt ist. In diesem Gedicht schwingt jedenfalls ersichtlich ein spiritueller Unterton mit, der seine Überzeu­ungskraft nicht nur aus der Stimmigkeit des Bildes, sondern auch aus der überzeugenden Verschränkung der beiden Seinsbereiche bezieht. Eine ähnlich geglückte Verschränkung unterschiedlicher Vorstellungsbereiche bzw. Assoziation von Mit- und Nebenbedeutungen lassen auch die folgenden beiden Haiku erkennen:

Von weißem Flieder
verschneit ist die Quelle – selbst
das Wasser duftet.

Das blaue Glühen
des Rittersporn – nur Asche
im ersten Dämmern.

Bodmershof hat, in anderen Worten, die Strukturmomente, wie sie für das japanische Haiku charakteristisch sind, in der deutschen Sprache nachvoll­zogen. Erstens gebraucht Bodmershof in den allermeisten Fällen Begriffe, die in einer ähnlichen Form wie das japanische 'kigo' (Jahreszeitenwort) erkennen lassen, in welcher Jahreszeit das Gedicht angesiedelt ist. So verweist der Flieder eindeutig auf den Frühling und der erblühte Rittersporn eindeutig auf den Sommer. Zweitens setzt Bodmers­hof die Verspause in einer Form ein, wie sie für das japanische 'kireji' (Schneidewort) charakteristisch ist. Mit Hilfe dieser Wörter werden bestimmte Worte im japanischen Haiku rhythmisch akzentuiert. In den Gedichten Bodmershofs wird diese gravierende Zäsur zumeist durch einen Gedankenstrich angezeigt. Drittens entspricht die vergleichsweise dichte Atmosphäre, wie sie Bodmershof kraft der vielfältigen und miteinander verwobenen Konnotationen und Assoziationen erzeugt, dem in der japanischen Haiku-Literatur sehr geschätzten Strukturmoment des 'yoin' (Nachhall).

Ob sich Bodmershof gezielt darum bemüht hat, die drei Strukturmomente des japanischen Haiku in die deutsche Literatur einzutragen, oder ob sie 'nur' die Möglichkeiten, welche ihr die deutsche Sprache und Literatur einräumt, um ästhetisch komplexe Kurzgedichte zu schreiben, mit Kunstverstand nutzte, mag dahingestellt bleiben. Insofern kaum vorstellbar ist, wie es möglich sein sollte, ästhetisch geglückte deutsche Haiku zu schreiben, ohne die beschriebenen Kunstgriffe zu verwenden, sind die deutschen Haiku jedenfalls nicht in irgendeiner spezifischen Weise durch die japanische Literatur geprägt. Die außerordentliche Kürze des Haiku durch besondere ästhetische Komplexität bzw. 'poetische Überstrukturierung' wettzumachen, sind die Autoren beider Sprachen gleichermaßen bestrebt. Daß die japanischen Haiku-Autoren in dieser Hinsicht nicht grundsätzlich anders verfahren (können) als die deutschen, mag die japanische Sprache ihnen auch einen etwas größeren Spielraum ermöglichen, lässt sich Ekkehard Mays Kommentaren zu den Gedichten Kikakus, Ransetsus und Kyorais, die er in seine Anthologie "Shomon" aufgenommen hat, leicht entnehmen.

Die ästhetische Qualität der einzelnen Gedichte ist jedoch nicht der einzige Faktor, auf denen der Wert von Bodmershofs Buch insgesamt beruht. Auch dessen übergreifende Werkstruktur spielt eine große Rolle. Was die Konzeption von "Haiku" insgesamt betrifft, fallen drei besondere Kunstgriffe ins Auge. Erstens hat Bodmershof die Natur in aller Regel außerordentlich differenziert und plastisch dargestellt. Man hat so gut wie ausnahmslos den Eindruck, die Natur und nicht nur NaturKlischees präsentiert zu bekommen. Zweitens stehen die einzelnen Haiku dank der Verschränkung einzelner Motive sowie dank einer durch den 'yoin' bewirkten Atmosphäre in aller Regel in einem engen Zusammenhang. Erzeugt wird dieser Eindruck von Geschlossenheit zudem noch durch die diskrete autobiographische Dimension des Buches: Die Haiku reflektieren nicht allein den Ablauf eines Jahres in der Natur, sie reflektieren in eins auch den Ablauf eines Jahres im Leben der "Gutsbesitzerin" Imma von Bodmershof. Am deutlichsten tritt dies in denjenigen Sommer-Gedichten hervor, in denen die Autorin Eindrücke aus ihrer Sommerfrische mitteilt. Damit hat Bodmershof die japanische Haiku-Lyrik allerdings nicht mehr allein als Haiku-Lyrik aufgenommen, sondern sie zugleich mit einem autobiographischen Diskurs verschmolzen, ähnlich wie später im übrigen u.a. Günther Klinge.

Verschmolzen hat Bodmershof das Haiku außerdem noch mit einem besonderen Jahreszeiten-Diskurs. Obgleich die Autorin ihre Haiku wie Rottauscher nach dem Prinzip des Jahreszeitenkreislaufs angeordnet hat, läßt sich diese Tatsache doch nicht allein durch den Bezug auf die Anthologie "Ihr gelben Chrysanthemen" erklären. Liest man das Haiku-Buch Bodmershofs vor dem Hintergrund ihrer Romane, insbesondere vor dem Hintergrund von "Der zweite Sommer", einem autobiographisch geprägten Buch, oder auch "Die Rosse des Urban Roithner", Bodmershofs bekanntestem Roman, so erkennt man, daß die Natur und die Jahreszeiten darin jeweils eine große Rolle spielen. Der Gutsfrau war die Natur des Waldviertels, in dem sie lebte, und deren Einfluß auf das Leben der Menschen bis ins Detail vertraut. Ohne diese besondere Vertrautheit mit der Natur wäre Bodmershof wohl auch kaum jene erstaunlich detaillierte und präzise Nachzeichnung des Jahreszeiten-Kreislaufs in "Haiku" möglich gewesen. Allem Anschein nach war die Natur im Wechsel der Jahreszeiten stets ein bedeutendes Element in der Literatur der Autorin, und offensichtlich erblickte sie im Haiku, wie sie es in der Anthologie Rottau­schers präsentiert bekam, eine Möglichkeit, die Natur im Wechsel der Jahreszeiten einmal unmittelbar zum Thema eines ihrer literarischen Werke zu machen.

 

6.
Das wie beschrieben eingebürgerte Haiku lebt nun bis in die Gegenwart hinein fort. Via Bodmershof und via Rottauscher steht zumal die im Rahmen der Deutschen Haiku-Gesellschaft produzierte Haiku-Dichtung bis heute in der Tradition der Literatur, wie sie in der Inneren Emigration entstanden ist. Margret Buerschapers Festsetzung des Haiku als "Naturgedicht", das eine bestimmte "Jahreszeit" darzustellen habe, hat diese Tradition noch einmal nachdrücklich konfirmiert. Tatsächlich auch ist die spirituelle und im weitesten Sinne erotische Linie der deutschsprachigen Haiku-Literatur in den Hintergrund zurückgetreten, jedenfalls im Umkreis der Deutschen Haiku-Gesellschaft. Ob sich die deutschen Haiku-Autoren dessen bewußt sind oder nicht - ihr Schaffen wird nicht nur von der japanischen Tradition des Haiku, sondern auch – und meiner Ansicht nach in erster Linie - von der literarischen Tradition geprägt, welche die im wesentlichen kulturkonservativen Literatur der Inneren Emigration initiiert haben. Zu den betreffenden Autoren gehört übrigens nicht zuletzt auch Manfred Hausmann – bei dessen Haiku-Übersetzungen in "Liebe Tod und Vollmondnächte" es sich größtenteils um Bearbeitungen von Gedichten aus der Anthologie Rottauschers handelt...

Freilich gehören nicht alle deutschen Haiku der Tradition des Natur-Haiku an. Ebenfalls Mitte der 1980er Jahre - die auch darum einen Drehpunkt in der Geschichte der deutschen Haiku-Literatur bildet -, zeitgleich mit der Gründung der Deutschen Haiku-Gesellschaft, wenngleich außerhalb der Deutschen Haiku-Gesellschaft, lassen sich einige Neuentwicklungen beobachten. So publizierte Uli Becker 1983, also nur drei Jahre nach der Veröffentlichung von "Im fremden Garten", Bodmershofs drittem und letztem Haiku-Buch, unter dem Titel "Frollein Butterfly" eine Sammlung postmoderner Liebes-Haiku. Der besondere Charakter dieser künstlerisch durchaus geglückten Gedichte manifestiert sich – das Programm der Postmoderne lautet "Cross the Border - Close the Gap" - in der Aufnahme von Populärkultur. Zu den betreffenden Elementen der Populärkultur gehören hier u.a. die Pornographie:

Tun kein Auge zu
heut nacht vor lauter Vögeln,
Hommage a Hitchcock.

Schon im Untertitel "69 Haiku" ist bereits ein Hinweis auf die erotische Dimension der Gedichte enthalten. Zugleich läßt das zitierte Gedicht als weiteren Aspekt von dessen postmodernem Charakter die Aufnahme von Kinofilmen erkennen. Trivialmythen, ein dritter Aspekt postmoderner Literatur, nimmt Becker ebenfalls auf, geschickterweise sogar aus der zeitgenössischen japanischen Kultur bzw., genauer: aus dem zeitgenössischen Japonismus:

Liebesbriefwonnen:
Die Harakiriklinge
vom Aufschlitzen stumpf.

Ganz locker spannen,
wie Zen-Meister den Bogen –
Nicht das Ziel, der Weg!

Trotz dieser Reminiszenzen an den Japonismus stehen die Haiku doch letztlich in der Tradition der postmodernen amerikanischen Lyrik, wie sie im deutschen Sprachraum vor allem Rolf Dieter Brinkmann, das erklärte Vorbild Uli Beckers, propagierte und praktizierte. Sogar auf das Gedicht der amerikanischen Lyrik, das Brinkmann zustimmend als Beginn der Pop art zitiert, wird in einem Haiku angespielt:

Ihr Kuß ein Echo
der Pflaumen aus dem Eisschrank,
so süß und so kalt.

Becker bezieht sich hier auf W.C. Williams berühmtes (und in der Tat faszinierendes) Gedicht "This Is Just To Say".
Trotz der gravierenden Unterschiede, die zwischen den Haiku Beckers und den Haiku Bodmershofs bestehen, gravierendere lassen sich wohl kaum denken, liegt ihnen doch jeweils dasselbe Assimilationsprinzip zugrunde. Beide Autoren haben die japanische Gattung aufgenommen, um eine bereits existente poetische Konzeption in einer neuen Form zu realisieren – und damit die deutsche Literatur weiterzuentwickeln. Ob diese Konzeption in einen kulturkonservativen Natur- oder einen kulturprogressiven Postmoderne-Diskurs gehört, spielt dabei im Prinzip keine Rolle. Dasselbe gilt überdies auch für die 1984 publizierten Haiku von H.C. Artmann, der sie in die für ihn charakteristische surrealistisch-parodistische, oder für die 1996 veröffentlichten Haiku von Peter Waterhouse, der sie in die für ihn charakteristische Spaziergangsliteratur integrierte. Jedesmal greifen die Autoren die Gattung auf, um bereits existente literarische Projekte auch in dieser Gattung zu realisieren.

Was die Aufnahme des Haiku nicht geleistet hat, auch dies dürfte im Rückblick erkennbar werden, ist eine Bereicherung der deutschsprachigen Literatur um spezifische 'Ideologeme'. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Assimilation des Haiku etwa von der Aufnahme des Sonetts, mit dem auch die neuhumanistische Konzeption der Liebe in die deutsche bzw. deutschsprachige Kultur Eingang fand. In einer anderen Hinsicht unterscheidet sich die Assimilation des Haiku auch von der Aufnahme der japanischen Bildenden Kunst, deren Einfluß auf die moderne europäische Malerei sich ja bekanntlich kaum überschätzen läßt. Doch nicht anders als die japanische Malerei, obschon natürlich in einem wesentlich bescheideneren Rahmen, eröffnete auch das Haiku den europäisch-deutschen Künstlern, versteht man Gattungen als „Verknüpfungen zwischen Realität und Literatur“, eine bis dahin unbekannte Möglichkeit, Wirklichkeit zur Darstellung zu bringen.

Das blaue Gluhen des Rittersporn . Ein Nachtrag
Da aus redaktionellen Grunden der Beitrag .Das blaue Gluhen des Rittersporng von
Andreas Wittbrodt in Heft 61 ohne Fusnoten abgedruckt werden muste, werden die
Fusnoten, die auch ohne einen direkten Verweis aus dem Text heraus verstandlich
sind, an dieser Stelle nachgereicht:

Dieser Text prasentiert Vorarbeiten zu einer umfassenderen Darstellung der
deutschsprachigen Literatur in japanischer Formtradition (zumal Haiku, aber
auch Tanka, Renga und Renshi) aus dem Vorfeld und Umfeld der 'Deutschen
Haiku-Gesellschaft'.
Vgl. Kat. Keiji: Deutsche Haiku. Ein kurzer Beitrag zur vergleichenden
Literaturgeschichte. Aus dem Japanischen ubers. von Junko Lampert.
Uberarbeitet fur deutsche Leser von Takako von Zerssen und Marga
Rosskothen. T.ky., Nagata: 1986.
Karl Kleinschmidt: Der schmale Weg. 200 dreizeilige Gedichte (Haikus). Linz,
Kulturamt: 1953.
Ingrid Schuster: China und Japan in der deutschen Literatur 1890-1925. Bern
Munchen, Francke: 1977.
Anthologie der deutschen Haiku. Hrsg. von Hachir.Sakanishi, Herbert Fussy,
Kaoru Kubota und Hakucho Yamakage. Sapporo, Dairyman: 1978.
Vgl. etwa die ursprunglich in den 1920er Gedichte von Hans Kanzius, abgedruckt
in: ebd., S. 36, 37.
Franz Blei: Das Hai-Kai. In: Roland 23, 1925, S. 40. - Yvan Goll: Hai.Kai [Essay].
In: Die Literarische Welt 2, 1926, Nr. 46, S. 3. Wiederabgedruckt in: Ders.: Die
Lyrik in vier Banden. Bd. 1. Fruhe Gedichte 1906.1930. Hrsg. und kommentiert
von Barbara Glauert.Hesse. Berlin, Argon: 1996, S. 331.333. Ders.: Moderne
Hai.Kais. In: Die literarische Welt 3, 1927, Nr. 46, S. 3. Wiederabgedruckt in:
Ders.: Die Lyrik in vier Banden. Bd. 1., S. 335.336. Ders.: Neue Hai.Kais. In:
Ders.: Die Lyrik in vier Banden. Bd. 1, S. 335.336 (Erstveroffentlichung). Ders.:
Zwolf Haikai's der Liebe. In: Die Literarische Welt 2, 1926, Nr. 46, S. 3.
Wiederabgedruckt in: Ders.: Die Lyrik in vier Banden. Bd. 1., S. 333.334. -
Rainer Maria Rilke: Samtliche Werke. Bd. 2. Hrsg. v. Rilke.Archiv. In
Verbindung mit Ruth Sieber.Rilke besorgt durch Ernst Zinn. Frankfurt am Main,
Insel Verlag: 61992, S. 638, 245 und 745.
Vgl. Rene Altmann: Hokku [Gedicht]. In: Neue Wege, Nr. 54, April 1950, S. 506.
Vgl. h[ans] [carl] artmann: ein lilienweiser brief aus lincolnshire. gedichte aus 21
jahren. hrsg. und mit einem nachwort von gerald bisinger. frankfurt am main,
suhrkamp: 1969, S. 28. Das Gedicht wurde bereits Mitte der 1940er Jahre
geschrieben.
Vgl. dazu auch: Auch im dunklen Raum... 1. Haiku-Anthologie der Zeitschrift 'Das
Senfkorn'. Hrsg. von Michael Morgental. Geesthacht, Wolkentor: 1982, eine aus
dem Kreis der betreffenden Autoren hervorgegangene Anthologie.
Die Ubersetzungen basieren im wesentlichen auf: Basil Hall Chamberlain: Bash.
and The Japanese Poetical Epigram. In: Transactions of the Asiatic Society of
Japan. Part II. Sept. 1902, S. 243-362; Les Haikais de Kikakou. Texte und
Kommentare erstmals aus dem Japanischen ubersetzt von Kunio Matsuo und
[Emile] Steinilber-Oberlin. Paris, Les Editions Cres: 1927; sowie insb.: Miyamori
Asatar.: An Anthology of Haiku. Ancient and Modern. Translated and annotated
by Asatar.Miyamori. With 72 Autographs and Pictures. Including 18 Coloured
Pictures. T.ky., Maruzen: 1932.
Ihr gelben Chrysanthemen! Japanische Lebensweisheit. Nachdichtungen
japanischer Haiku von Anna von Rottauscher. Wien, Scheurmann: 1939, S. 60.
Vgl. dazu im einzelnen: Vf.: Das Haiku in der Literatur der Inneren Emigration.
Anna von Rottauschers "Ihr gelben Chrysanthemen". In: Deutschland und
Japan im 20. Jahrhundert. Wechselbeziehungen zweier Kulturnationen. Hrsg.
von Karl Anton Sprengard, Kenchi Ono und Yasuo Ariizumi. Wiesbaden,
Harrassowitz: 2002, S. 175-183.
Vgl. etwa: Ergriffenes Dasein. Deutsche Lyrik des Zwanzigsten Jahrhunderts. Hrsg.
von Hans Egon Holthusen und Friedhelm Kemp. Stuttgart, Voss:101964 (11953);
Deutsche Lyrik der Gegenwart. Eine Anthologie. Hrsg. und eingeleitet von Willi
Fehse. Stuttgart, Reclam: 51975 (11960).
Titel eines Gedichtbandes von Werner Bergengruen: Ders.: Heile Welt. Zurich,
Arche: 1950. Titel auch eines Gedichts von Wilhelm Lehmann in: Ders.:
Entzuckter Staub. Heidelberg, Lambert Schneider: 1946, S. 8.
Ihr gelben Chrysanthemen, ubers. v. A. Rottauscher, a.a.O., S. 95.
Theodor Verweyen, Gunter Witting: Die Kontrafaktur. Vorlage und Verarbeitung in
Literatur, bildender Kunst, Werbung und politischem Plakat. Konstanz,
Konstanzer Universitatsverlag: 1987, S. 73.
Vgl. das ersichtlich christlichen Widerstand leistende Buch: Karl Kleinschmidt: Die
Hohe Stunde. Gedichte. Brunn Wien Leipzig, Rohrer: [1941].
Vgl. den Aufweis der Abhangigkeiten in: Herbert Fussy: Die neuere deutsche Lyrik
und Ostasien. Diss. Graz 1974, S. 284.
Vgl. Kleinschmidt: Der schmale Weg, a.a.O., S. 5, 18, 32.
Vgl. Ihr gelben Chrysanthemen, ubers. v. A. Rottauscher, a.a.O., S. 90-91
Kleinschmidt: Der schmale Weg, a.a.O., S. 27.
Vgl. Fussy: Die neuere deutsche Lyrik und Ostasien, a.a.O., S. 287.
Kleinschmidt: Der schmale Weg, a.a.O., S. 21, 21.
Karl Kleinschmidt: Verse aus Osterreich nach japanischer Weise. In: Linz aktiv 6,
1963, S. 41-42, S. 41.
Kleinschmidt: Der schmale Weg, a.a.O., S. 10.
Karl Kleinschmidt: Tau auf Grasern. Dreizeilige Gedichte (Haiku). Mit einem
Nachwort von Richard Billinger. Wien Innsbruck Wiesbaden, Rohrer: 1960,
S. 48.
Flandrina von Salis: Mohnbluten. Abendlandische Haiku, Olten, Oltener
Bucherfreunde: 1955.
Die Rose halt erst mit der 'Offnung des Landes' Einzug auch in die japanische
Haiku-Literatur. Ein bekanntes Beispiel dafur ist das Haiku "Die rote Rose! /
Eine hellgrune Spinne / kriecht daruber." in: Michael Reck: Masaoka Shiki und
seine Haiku-Dichtung. Munchen, Salzer: 1968, S. 101.
Vgl. Salis: Mohnbluten, a.a.O., S. 38.
Aufgenommen In: Hajo Jappe: Gesammelte Haiku. [Mit einer Vorbemerkung "Mein
Weg zu Hajo Jappe" von Carl Heinz Kurz und einer editorischen Notiz von
Georg Happe.] Gottingen, Graphikum: 1992, S. 7-48 [11959].
Ihr gelben Chrysanthemen!, ubers. v. A. Rottauscher, a.a.O., S. 54. Zuvor wurde
dieses Gedicht vermittelt in: Karl Florenz: Dichtergruse aus dem Osten.
Japanische Dichtungen. Leipzig, Amelang . T.yk., Hasegawa: 1894, S. 41;
Manfred Hausmann: Liebe, Tod und Vollmondnachte. Frankfurt am Main,
S. Fischer: 1952, S. 51. In Hausmanns Ubertragung, allem Anschein nach
Bearbeitungen der Ubersetzungen Rottauschers, lautet das Gedicht, das Jappe
auch aus dieser Quelle bekannt geworden sein konnte: "Ist da ein abgefallenes
Blatt / an seinen Zweig zuruckgeschwebt? / Ach nein, es war ein
Schmetterling."
Bernhard Doerdelmann: Es segelt der Mond durch die rotlichen Wolken. Egnach,
CLOU: 1960.
Heinz Helmerking: Ewiger Augenblick. Amriswil, Amriswiler Bucherei: 1961.
Vgl. Fallende Bluten. Japanische Haiku-Gedichte fur alle vier Jahreszeiten. Aus
dem Japanischen ubers. von Erwin Jahn. Zurich, Arche: 1968.
Erwin Jahn: Deutsches Haiku [Rezension von: Imma von Bodmershof: Haiku.
Munchen Wien, Langen-Muller: 1962]. In: Die Furche 18, 1962, Nr. 51, S. 20
Zur kunstlerischen Dimension der Gedichte vgl. im einzelnen: Vf.: 'Etwas ganz
Neues, Einzigartiges. ' Die asthetische Komplexitat der Haiku Imma von
Bodmershofs. In: literatur fur leser 1999, H. 1., S. 42-60, sowie in:
Vierteljahresschrift der Deutschen Haiku-Gesellschaft 15, Nr. 57, 2002, S. 2-29.
Vgl. Imma von Bodmershof: Wie kam ich dazu, Haiku zu schreiben? In:
Vierteljahresschrift der Deutschen Haiku-Gesellschaft 5, 1992, Nr. 3, S. 10-11,
S. 10.
Ihr gelben Chrysanthemen, ubers. v. A. Rottauscher, a.a.O., S. 70.
Imma von Bodmershof: Haiku. Zeichnungen von Ruth Stoffregen. Munchen,
Langen-Muller: 1962, S. 15.
Fussy: Die neuere deutsche Lyrik und Ostasien, a.a.O., S. 289.
Bodmershof: Haiku, S. 32.
Bodmershof: Haiku, a.a.O., S. 42.
Dieses Haiku stammt freilich aus: Imma von: Bodmershof: Sonnenuhr. Haiku.
Salzburg, Neugebauer: 1970, S. 30.
Zur Poetik des Haiku vgl. Horst Hammitzsch: "Das Sarumino - Eine Haikai-
Sammlung der Basho-Schule. Ein Beitrag zur Poetik des renku, aus dem
Japanischen ubersetzt von Horst Hammitzsch", in: Mitteilungen der Deutschen
Gesellschaft fur Natur- und Volkerkunde Ostasiens 77/78 (1955), S. 22-60, bes.
S. 27-31. Vgl. im vorliegenden Zusammenhang auch Vf.: Etwas ganz Neues,
Einzigartiges, a.a.O., S. 51-56.
Vgl. Sh.mon. Das Tor der Klause zur Bananenstaude. Hrsg. und aus dem
Japanischen ubertragen von Ekkehard May. 2 Bde. Mainz, Dieterichsche
Verlagsbuchhandlung: 2000 / 2002.
Imma v. Bodmershof: Kleine Autobiographie. In: Dies.: Unter acht Winden.
Eingeleitet und hrsg. v. Hajo Jappe. Graz Wien, Stiasny: 1962, S. 123-124,
S. 123.
Vgl. Bodmershof: Haiku, S. 54-60.
Vgl. etwa, als erstes Buch einer ganzen Reihe: Gunther Klinge: Wiesen im
Herbstwind. Mit Ubersetzungen ins Japanische von Herbert Zachert. T.ky.,
Kadokawa-Shoten: 1973.
Imma von Bodmershof: Der zweite Sommer. Roman. Berlin, S. Fischer: 1937. .
Dies.: Die Rosse des Urban Roithner. Roman. Karlsruhe, Loeper: 1982 [11944].
Margret Buerschaper: Das deutsche Haiku, in: Vierteljahresschrift der Deutschen
Haiku-Gesellschaft Jg. 1, Nr. 1, 1988, S. 6-7, S. 6. . In ahnlicher Weise definiert
Buerschaper das Haiku in: Das grose Buch der Haiku-Dichtung. Mit
Ubersetzungen ins Englische von Werner Manheim und Ubersetzungen ins
Japanische von Kaoru Kubota. Hrsg. von Carl Heinz Kurz. Gottingen,
Graphikum: 21990, S. 8, der ersten konstitutiven Anthologie deutscher der
Deutschen Haiku-Gesellschaft, das Haiku noch einmal als ein "Naturgedicht",
"das eine bestimmte Jahreszeit anspricht".
Zu den nicht allzu vielen Ausnahmen gehort als eine freilich gravierende: Peter
Jentzmik: Zum Rand der Erde. Zen in der Kunst des Haiku. Liburg, Glaukos:
1997.
Imma von Bodmershof: Im fremden Garten. 99 Haiku. Zurich, Arche: 1980.
Uli Becker: Frollein Butterfly. 69 Haiku. Mit einem Frontispiz nach einer Zeichnung
von Rotraut Susanne Berner. Berlin, Maro: 1983.
So der Titel des bekannten Aufsatzes von Leslie Fiedler in: The Collected Essays
of Leslie Fiedler. Bd. II. New York, Stein & Day: 1971, S. 461-485 [11970].
Becker: Frollein Butterfly, a.a.O., S. 73.
Vgl. Rolf Dieter Brinkmann: Notizen 1969 zu amerikanischen Gedichten und zu der
Anthologie 'Silverscreen'. In: Ders.: Der Film in Worten. In: Ders.: Der Film in
Worten. Prosa Essays Horspiele Fotos Collagen 1965-1974. Reinbek bei
Hamburg, Rowohlt: S. 248-269, S. 264.
Becker: Frollein Butterfly, a.a.O., S. 127.
Vgl. W. C. Williams: Die Worte, die Worte, die Worte. Gedichte. Amerikanisch und
Deutsch. Ubersetzt von Hans Magnus Enzensberger. Frankfurt am Main,
Suhrkamp: 1989, S. 92: "This Is Just To Say // I have eaten / the plums / that
were in / the icebox. // and which / you were probably / saving / for breakfast //
Forgive me / they were delicious / so sweet / and so cold".
h[ans] c[arl] artmann: nachtwindsucher. 61 osterreichische haiku. In: Ders.: Das
poetische Werk. Bd. IX. 'Zimt und Zauber.' Unter Mitwirkung des Autors hrsg.
von Klaus Reichert. Berlin, Rainer . Munchen Salzburg, Renner: 1993, S. 27-
44. - Peter Waterhouse: Mitschrift aus dem Meer der Losungen. In: Akzente.
Zeitschrift fur Literatur 43, H. 5, 1996, S. 388-403.
Vgl. Klaus Berger: Japonismus in der westlichen Malerei 1860-1920. Munchen,
Prestel: 1980.
Vgl. Horst Steinmetz: Gattungen. Verknupfungen zwischen Realitat und Literatur.
In: Gattungstheorie und Gattungsgeschichte. Ein Symposion. Hrsg. von Dieter
Lamping und Dietrich Weber. Wuppertaler Broschuren zur Allgemeinen und
Vergleichenden Literaturwissenschaft 4, 1990, S. 45-69.
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Das Haiku - Die Meditation der Silben
Von Rüdiger Heins

Die lyrische Form des Haiku bewegt sich in einer Textkulisse von drei Zeilen, beschränkt auf siebzehn Silben. Diese Dichtkunst hat in Japan eine lange Tradition; wobei sich die Anfänge jener ursprünglich japanischen Lyrik im Niemandsland der schriftlosen Vorzeit verlieren.

 

Die Wurzeln der Haiku Dichtung

Das Haiku ist vermutlich eine der ältesten Dichtformen, die wir in der Literaturwissenschaft kennen. Seit etwa 1600 Jahren wird in Japan diese Dichtung gepflegt. Dabei sind die Ursprünge dieser Dichtkunst nicht unbedingt identisch mit dem Haiku, das wir heute kennen. Das Tanka beispielsweise, mit seinen fünf Zeilen, wird als eine der Urformen dieser Dichtung angesehen. Ein Tanka hat fünf Zeilen, das Haiku nur drei.

Das Wort "Haiku" bedeutet übrigens im japanischen Uta, eine Ableitung von uta-u; wörtlich übertragen bedeutet dies: Gesang. Haiku Gedichte wurden zu Beginn ihrer "lyrischen Evolution" singend vorgetragen. Ein Hinweis darauf, dass Haiku Gedichte ein rhythmisches Klangerlebnis mit dem Medium Sprache ausdrückt.

Erst mit der Einführung chinesischer Schriftzeichen im Jahre 375 n. Chr. werden die ersten poetischen Fragmente japanischer Dichtkunst auch zu Papier gebracht. Die Spurensuche nach dem Haiku im Laufe der Literaturgeschichte beginnt jedoch erst in den Jahren 400 bis 759. In der Anthologie Manyôshû, der ältesten erhaltenen japanischen Lyriksammlung, finden wir heute in einem Volumen von etwa "Zehntausend-Blättern" insgesamt 4496 Gedichte, von denen etwa 4173 Tanka Gedichte sind (Ulenbrook 1996: 205). Tanka ist eine, wie bereits erwähnt, Urform des heutigen Haiku.

"Die Regeln der japanischen Verskunst sind äußerst einfach, sie verlangen weder Reim noch Silbenmaß. Das Besondere liegt darin, dass die Zeilen immer abwechselnd aus 7 oder 5 Silben bestehen (Hasumi 1986: 12)."

Die japanische Dichtkunst des Haiku wurde in der Form, wie wir sie heute kennen (mit der Silbenstruktur 5 / 7 / 5) im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert aus der so genannten "Ur - Haiku - Dichtung" entwickelt. Der direkte Vorfahre des Haiku ist die Renga Dichtung, eine Dichtzyklus auf der Grundlage 5 / 7 / 5, jedoch ohne Begrenzung der Strophen. Renga war ein Gesellschaftsspiel, das von mehreren Personen gedichtet wurde. Jeder Spielteilnehmer dichtete eine Strophe, die ein anderer beantwortete oder fortsetzte.

Genau genommen ist das Haiku auch eine Fortentwicklung des fünfzeiligen Tanka (5 / 7 / 5 / 7 / 7). Das Tanka ist unterteilt in eine Oberstrophe und eine Unterstrophe. Die Oberstrophe hat bereits die klassische Struktur des Haiku (5 / 7/ 5), auf die wir noch zu sprechen kommen.

blätter winken grün
früchte süss und reif - nehmen
abschied vom sommer

Ina Leisenheimer

Erst als Matsuo Bashô (1644 - 1694 die Haiku Bühne betritt, erhält das Haiku seine Form (siehe auch: Was ist ein Haiku?) wie wir sie kennen. Gewiss gab es bereits vor Bashô Dichter, die damit begonnen hatten, die drei Zeilen des Haiku auf der Grundlage der siebzehn Silben zu kultivieren. Dennoch ist es Bashô zu verdanken, dass diese Dichtkunst auch zu ihrer literarischen Anerkennung gelangte. Bashô transportierte das Haiku aus der weltlichen Kulisse in spirituelle Sphären. Für ihn war das Dichten innerhalb einer begrenzten Textkulisse eine zen-buddhistische Übung auf dem Weg ins Nirwana.

 

Mit dem Haiku meditierend durch die Jahreszeiten

Haiku Gedichte können auch eine Meditation sein. Der zen-buddhistische Laienmönch Matsuo Bashô verbrachte einen großen Teil seines Lebens Haiku dichtend. Mittellos und auf der Suche nach der ewigen Erleuchtung, war für ihn die Dichtkunst eine Möglichkeit in die Meditation der Sprache einzutauchen.

Nichts als Stille!
Tief in den Felsen sich gräbt
Schrei der Zikaden

Matsuo Bashô

Haiku Gedichte sind zarte Aquarelle, die mit den Farbnuancen der Worte, zu Papier gebracht werden. Haiku Dichter und Dichterinnen bedienen sich dieser kürzesten Form der Dichtkunst, die wir in der Literaturgeschichte kennen, um Gefühle, Gedanken, Erkenntnisse, Naturimpressionen und Fantasien zu Papier zu bringen. Übertragen auf die Bildende Kunst haben wir es beim Haiku mit einen Minimal-Art in der Lyrik zu tun.

Haiku DichterInnen sind so gesehen Minimal-Art Künstler der Sprache. Mit dezent platzierten Worten, verteilt auf die drei Zeilen der Haiku Kulisse, gelingt es ihnen in der Tradition der alten Meister ihre inneren Klangwelten nach außen in Sprache zu transportieren. Nicht gerade eine einfache Aufgabe in einer Welt, in der die vielen Worte so viel bedeuten, das Wenige aber übersehen wird. Einer Welt, in der die Lauten das Sagen haben und die leisen Worte verschwinden. Einfach verschwinden. nicht aufzuhalten / die luft voller erwartung / das jahr explodiert, schreibt Theo Schmich (Bernhardt, Hrsg. 2002:14) in einem seiner Verse und trifft damit den Puls der Zeit, indem er die traditionellen Vorgaben eines Haiku in die Sprache des 21. Jahrhundert transportiert. Bereits in der ersten Zeile erfahren wir die Impression des Autors, während die zweite verschlüsselt eine Auskunft über die Jahreszeit - die luft voller erwartung - gibt. Einer Zeit, in der die Kälte unter den Menschen immer unerträglicher wird und die Suche nach Liebe die Polkappen zum Schmelzen bringt, das ist vermutlich die prosaische Interpretation dieses Gedichtes, die in der letzten Zeile mit den Worten: "das jahr explodiert" zum Ausdruck gebracht wird.

Haiku beziehen sich auch heute noch (der Tradition verpflichtet) auf die Jahreszeit, in der sie entstanden sind. In ihrem Ursprung waren Haiku Naturgedichte, die eingebettet in die Jahreszeit, eine autobiografische Auskunft über das Befinden des Dichters gaben. Mit wenigen Worten können geübte Haiku - Dichter zarte Aquarelle der Sprache zu Papier bringen.

abenddämmerung
nahe am ufer des teichs
tränende herzen

Rüdiger Heins

Das Jahreszeitenwort (japanisch: kigo) im Haiku spielt eine wesentliche Rolle, um dem Dreizeiler die Möglichkeit zu geben, sich in der Kulisse einer Jahreszeit zu bewegen. Folgende Thesen sind deswegen beim Schreiben eines Haiku im Bezug auf eine Naturimpression zu berücksichtigen:

1. Das Haiku ist ein Naturgedicht

2. Das Haiku sollte ein Jahreszeitenwort enthalten.

(Buerschaper 2002: 2)

Das Rotkehlchen schilt:
Eis auf der Vogeltränke
Wart nur, die Sonne ...

Margret Buerschaper

Dieses Haiku von Margret Buerschaper zeigt uns die klassische Form eines Haiku - Gedichtes: Eis auf der Vogeltränke. Unschwer ist hier die Jahreszeit zu erkennen, in der sie ihren Vers angesiedelt hat. Buerschaper verwendet nicht einfach platt den Begriff "Winter" oder vielleicht die Metapher "weiß wie der Schnee", nein sie transportiert die Jahreszeit auf eine Vogeltränke und lässt durch das darauf befindliche Eis erkennen, dass wir uns in der Jahreszeit des Winters befinden. Die Dramaturgie wird dann in der letzten Zeile verändert - und nimmt einen unerwarteten Verlauf: Hier erfahren wir, etwas über das Befinden der Dichterin: Wart nur, die Sonne... Das Rotkehlchen schilt ist gutes Beispiel dafür, dass Naturimpression und Meditation im Einklang mit der Melodie des Haiku sind. Eine zarte Pflanze, die sich Haiku nennt, bahnt sich ihren Weg zum Licht.

 

Was ist ein Haiku?

Wir erkennen ein Haiku daran, dass es immer drei Zeilen hat. Diese drei Zeilen wiederum haben eine festgelegte Silbenform, die dem Haiku in seiner Gesamtheit seine unverkennbare Sprachmelodie verleiht. Die erste Zeile eines Haiku (Haiku wird im Plural übrigens ohne das "s" geschrieben) hat fünf Silben, die zweite sieben und die dritte Zeile wiederum fünf Silben. Mit insgesamt siebzehn Silben in drei Zeilen ist es mit dieser Dichtform möglich, eine Impression zu transportieren, die durch die Zusammenstellung von Worten Sprache zur Minimal Art mit großer Nachwirkung werden lässt. Im Folgenden ein Haiku, das ich geschrieben habe, als der Golfkrieg Anfang der neunziger des vergangenen Jahrhunderts ausgebrochen war. Ein Haiku, das übrigens auch heute noch - oder wieder - Aktualität besitzt:

apokalypse
in den nachrichten der welt
und laub fällt vom baum

Das optische Erscheinungsbild dieses Haiku ist klar. Drei Zeilen bilden die Textkulisse. Doch nun untersuchen wir etwas näher die Struktur der Silben:

Erste Zeile: a / po / ka / lyp / se (fünf Silben). Mit einem Wort, dem Begriff der Apokalypse beschreite ich hier in der ersten Zeile den Weg der fünf Silben. Geübte Lyrikleser wissen bereits jetzt schon, dass dieses Gedicht sich mit einem Thema beschäftigt, das in uns ein eher ungutes Gefühl erzeugt.

Zweite Zeile: in / den / nach / rich / ten / der / welt (sieben Silben). Die zweite Zeile korrespondiert mit der ersten. Der durch die apokalyptischen Reiter bekannte Begriff der "Apokalypse" aus dem Alten Testament. Die Verwebung (Texten ist nichts anderes als das Verweben von Worten, das lateinische Wort textus, dem unser Begriff Text abgeleitet ist, bedeutet nichts anderes als verweben) von Worten wird hier aus der alttestamentlichen Zeit mit einer Redewendung des 21. Jahrhunderts verwoben. apokalypse / in den nachrichten der welt / In der Silbenstruktur ist erkennbar, dass wir es in der zweiten Zeile mit insgesamt sieben Silben zu tun haben.

Dritte Zeile: und / laub / fällt / vom / baum (fünf Silben). Hier steht jedes Wort für eine Silbe. Deswegen erscheinen die Querstriche immer jeweils hinter einem Wort und nicht wie in den beiden ersten Zeilen, in den einzelnen Worten. Diese letzte Zeile bezieht sich übrigens im klassischen Sinne auf die Jahreszeit, in der diese Zeilen geschrieben wurden. Das vom Baum fallende Laub weist eindeutig auf den Herbst hin.

Haiku mit der Begrenzung auf siebzehn Silben lässt sich so erklären, dass wir einen Atemzug benötigen, um diese siebzehn Silben auszusprechen. Auch eine Korrespondenz mit dem Zen -Buddhismus, bei dem wir Atemübungen finden, die den meditierenden Menschen mithilfe des Ein- und Ausatmens in einen Zustand höchsten Wohlbefindens versetzen sollen. Das Schreiben von Haiku als eine Form der Meditation auf dem Weg zum inneren Glück.

zarter blütenduft
entlang der alten mauer
lächelt das mondlicht

Beate Giebel

Haiku- Dichtung hat aber auch sehr viel mit Disziplin zu tun. Das Glück bedarf der Zuwendung. Anfangs fällt es den westlichen Menschen schwer, sich der Ordnung der Zeilen und Silben hinzugeben. Doch bei intensiver Übung gestalten sich diese "Sachzwänge" zu inneren Freiräumen, die im außen Grenzen durch Silbenzahl setzen, aber im Innern die Fantasie zum Fliegen bringen können.

Im gelben Rapsfeld,
unter den Pfirsichen vor
erste Kirschblüten.

Matsuo Bashô

 

Wozu heute noch Haiku dichten?

Das Dichten von Haiku hat auch in der heutigen Zeit, die durchflutet ist von Virtualität und Medienrummel, seine Aktualität nicht verloren. Im Gegenteil: Je schnelllebiger sich unser menschliches Zusammenleben zeigt, desto häufiger suchen Menschen eine Nische, in der sie sich von den Folgen der modernen Gesellschaft erholen können. Eine dieser Nischen ist das Dichten von Haiku. Die Zahl Haiku dichtender Menschen ist in den letzten Jahren sprunghaft angestiegen. Hierüber gibt es zwar kein genaues Zahlenmaterial, dennoch zeigen neu erscheinende Haiku - Publikationen, als Anthologie oder Einzelveröffentlichung, dass es im deutschsprachigen Raum bereits eine große Haiku Gemeinde gibt. Vermutlich schreiben in diesem Land mehr Menschen Haiku, als Haiku Bücher gekauft werden; und vermutlich gibt es in diesem Land mehr Haiku Dichter, als wir uns das im Augenblick vielleicht vorstellen können. Haiku Dichtung wird im Rahmen des Deutschunterrichtes an den Schulen gelehrt, in der Erwachsenenbildung (Schreibkurse in den Volkshochschulen), aber auch auf den Universitäten wird in den Creative Writing Seminaren immer wieder auch Haiku dichten angeboten. Haiku führt Menschen zusammen, die sich so vielleicht nie kennen gelernt hätten, Haiku baut Brücken über kulturelle Barrieren hinaus.

sonnenblume blickt
kraftlos zur erde, sehnt sich
nach wärme und licht

Ute Dewitz

Unabhängig von der sozialen Funktion des Haiku gibt es natürlich auch noch eine fachliche Komponente. Für Autorinnen und Autoren sollte das regelmäßige Dichten von Haiku geradezu ein "muss" sein. Viele großen Schriftsteller und Dichter haben im Laufe ihres literarischen Werdegangs Haiku Gedichte geschrieben. Von Rilke etwa kennen wir ein Haiku, das zwar den Regeln der Haiku Dichtung, zumindest, was die Silbenanzahl anbelangt, nicht entspricht, dennoch bewegt sich Rilke in einer Kulisse von drei Zeilen und er schreibt dieses Gedicht auch im Geiste des hai-i.

Kleine Motten taumeln schaudernd quer aus dem Buchs; Sie sterben heute Abend und werden nie wissen, dass es nicht Frühling war.

In einem Brief an Gudi Nölke, den er ihr 1920 aus Genf schreibt, schreibt er über seine Entdeckung des Haiku Folgendes: "Kennen Sie die kleine japanische (dreizeilige) Strophe, die "Hai-Kais" heißt?" Dieses von insgesamt drei überlieferten Haiku Gedichten Rilkes gehört zu den frühen Beispielen der deutschsprachigen Haiku -Kunst (Sommerkamp 2002: 2). Aber auch bei Paul Ernst finden wir bereits in einer 1898 erschienen Lyriksammlung mit dem Titel "Polymeter" ein frühes Haiku deutschsprachiger Herkunft:

Eine Wasserrose
Die aus der Tiefe auftaucht.
Kräuselt sich das Wasser.

Die beiden Beispiele dieser hochkarätigen Dichter des 20. Jahrhunderts zeigen uns ein zunächst vorsichtiges Herantasten an diese fernöstliche Dichtkunst. Etwas zu langatmig bei Rilke, ein wenig hölzern bei Ernst, aber dennoch sind in seinen Zeilen bereits die ersten Fragmente der deutschsprachigen Haiku Dichtung zu erkennen. Auch Brecht, der schreibende Revolutionär bediente sich dieser meditativen Dichtkunst:

Der Bauer pflügt den Acker.
Wer
Wird die Ernte einbringen?

Bert Brecht hat sich mit seinen Zeilen schon ganz dicht an den Haiku - Geist, den hai-i angenähert. Aber auch hier sehen wir, dass die Struktur der Silben entweder noch nicht erkannt - oder aber nicht bekannt ist. Der Haiku Einfluss deutschsprachiger Dichter macht sich auch in den Werken anderer Nachkriegsautoren bemerkbar. Autoren wie Paul Celan, Günter Eich oder Helmut Heißenbüttel lassen in ihren Lyriken deutliche Einflüsse des asketischen Haiku erkennen (Sommerkamp 2002: 6). Auch zeitgenössische Dichter bedienen sich immer wieder der Haiku Dichtung, um etwas mit wenigen Worten (in einem Atemzug) auszudrücken, was mit vielen Worten nicht die Essenz ihrer Aussage treffen würde. Allen Ginsberg, Anne Waldmann, H.C. Artmann oder Arnfrid Astel benutzen immer wieder die vorgegebene Struktur des Haiku, um ihrer Dichtung einen Klang zu geben, den sie mit anderen Techniken so nicht bekommen würden.

Ein nächtliches Dorf.
Hingeduckt seine Dächer.
Ins Schneewolkengrau.

Heinrich Wiedemann

Das Schreiben von Haiku führt auch maßgeblich dazu bei, den eigenen Schreibstil zu verbessern oder ihm auch eine eigene Dynamik zu verleihen. Durch die geistige Bewegung in dieser überschaubaren Sprachkulisse erfährt der Dichter mehr über seine Möglichkeiten mit "weniger mehr" auszudrücken. Das Reduzieren von Sprache auf das Minimum eines Ausatmens bringt innere Ressourcen der Kreativität in einen Schreibfluss, den der amerikanische Kreativitätsforscherforscher Mihály Csikszentmihalyi, ungarischer Abstammung, so beschrieben hat: "Dichtung ist eine der besten kreativen Nutzungen von Sprache. Da Verse dem Verstand ermöglichen, Erfahrungen in kondensierter Form zu bewahren, sind sie ideal, um das Bewusstsein zu formen (Csikszentmihalyi 1991: 175). Schreiben also, als Ausdruck ursprünglicher Kreativität. Durch die Konzentration auf innere Schichten der Seele werden schöpferische Prozesse (Kreativität) ausgelöst. Haiku Dichtung als Urbild lyrischer Kreativität: Die Kreativitätsforschung sagt dazu, dass wenn ein Mensch in seinem Leben das erste Haiku Gedicht schreibt, dies ein Ausdruck von höchster Kreativität im Leben eines Menschen ist.

 

Meditation der Silben

Haiku Gedichte sind Gesänge der Sprache. Mit ihren zarten Melodien singen sie die Lieder von den Gefühlen und Wahrnehmungen der Menschen, von denen sie gedichtet wurden. Menschen, die Haiku schreiben, meditieren mit Worten, Silben und Zeilen die Melodien ihrer Herzen. Dabei ist die immer wiederkehrende Silben- und Zeilenform ein sprachliches Instrument, um sich einer Tradition hinzugeben, die Sprache zu einem Klangerlebnis werden lässt.

Dieses rhythmische Klangerlebnis ist auch bei den Haiku Gedichten, wenn sie den Geist des Haiku, den hai-i, auch mit Worten treffen, authentisch. Sie transportiert die alte Tradition der Haiku Dichtung ins 21. Jahrhundert und schließt mit ihren Worten den Kreis des Vergangenen mit dem Gegenwärtigen. Die äußere Disziplin der Haiku Dichtung hat etwas mit Hingabe - und nichts mit Unterwerfung - zu tun. Auf diese Weise wird das Haiku zu einer äußeren Disziplin, die sich mit ihren drei Zeilen und siebzehn Silben ausdrückt. Durch diese Begrenztheit des Textfundus werden im Inneren fantastische Sprachräume geschaffen, die unsere lyrischen Horizonte ins Grenzenlose erweitern.

Rüdiger Heins ist Autor und Dozent für Creative Writing am INKAS Institut für Kreatives Schreiben in Bad Kreuznach. Weitere Informationen über den Autor dieses Beitrages erhalten sie in den Websites: www.ruedigerheins.de www.inkas-id.de

 

 

Margret Buerschaper
Das Jahreszeitenwort im deutschen Haiku

Im Geburtsland der Haiku-Dichtung, in Japan, ist die Erwähnung der Jahreszeit unverzichtbarer Mittelpunkt eines Haiku. Sie gibt dem Kurzgedicht den atmosphärischen Hintergrund und löst im Gemüt und in der Seele des Dichters, aber auch des Lesers, eine Fülle von Emotionen aus, die, wollten wir sie beschreiben, Seiten füllen müssten.
Der Japaner lebt ganz anders in und mit den Jahreszeiten, in der Natur und durch ihre wechselnden Momente und Bilder zutiefst angerührt und angesprochen, als der Europäer. Dietrich Krusche (1) erläutert dies sehr eindrucksvoll am Beispiel des japanischen Hauses, dessen Bauweise es dem Japaner ermöglicht, „jahreszeitlich zu leben" - im Winter tief eingemummt, ohne schützende Mauern, im Sommer schwitzend, ohne kühlende Wände. Der Japaner will nicht von der Natur, von den Einwirkungen der Jahreszeiten isoliert sein, sondern mit und in ihnen leben, fühlen und empfinden. Dafür gäbe es sicher noch viele Beispiele anzuführen, doch dieser kurze Exkurs soll genügen, um uns an den Ursprung und die Tradition sowohl des Naturbildes als auch der Jahreszeitenerwähnung im Haiku zu erinnern.
Hier geht es darum, das Verhältnis der Deutschen zur Natur und zu den Jahreszeiten darzustellen und den Niederschlag der Empfindungen im deutschen Kurzgedicht aufzuspüren.
Voraussetzung und Grundlage der Ausführungen sind die beiden traditionellen Thesen:
1. Das Haiku ist ein Naturgedicht.
2. Das Haiku sollte ein Jahreszeitenwort enthalten.
(Mir ist bekannt, dass es sowohl in Japan als auch in Amerika und Europa Gruppen von Autoren und Literaturforschern gibt, die Einschränkungen gegenüber diesen Thesen vorbringen und andere Aspekte in den Mittelpunkt des Haiku gerückt sehen möchten. Diese zu benennen, sie erläuternd zu vertreten und zu begründen, müsste Inhalt weiterer Betrachtungen sein.)
Als Naturgedicht reiht sich das Haiku in die traditionelle deutsche Naturlyrik nahtlos ein, ja, die wachsende Vorliebe vieler Autoren für Haiku-Dichtung scheint mir eine notwendige Folge dieser Entwicklung zu sein. Im Haiku vereinen sich zwei wichtige Elemente der Naturlyrik - einmal die Betrachtungsweise der Natur als Anlass für religiös meditative Stille, Besinnung, Einkehr, ihre Vergänglichkeit als Symbol für den eigenen Lebensweg, ihre Schönheit als Anregung zum Schöpferlob zu sehen - zum anderen die seit Loerke, Lehmann und Krolow sich entwickelnde Sichtweise der lyrischen Synthese von Naturerscheinung und Wort, bei der das Naturbild das Gegebene, das Wort (der Dichter) das sich Nähernde, Erkundende ist, das sich bemüht, das Rätsel des Seienden in Sprache zu fassen. (Wer sich über die Entwicklung informieren und die verwandten Bindungen moderner Naturlyrik mit dem Haiku aufspüren möchte, dem sei das Buch „Moderne deutsche Naturlyrik" (2) mit einem aufschlussreichen Nachwort von Edgar Marsch empfohlen.)
Hier soll vom Jahreszeitenwort die Rede sein, das zwar eingebettet in die Natur und ihre Abläufe untrennbar mit ihr verbunden ist, andererseits aber angefüllt mit menschlichem Empfinden und Fühlen noch über sie hinaus weist.
Der Begriff „Jahreszeitenwort" besagt, dass ein im Haiku verwendetes Wort eindeutig eine Jahreszeit benennt, ohne Anlehnung an die festgelegten Namen Frühling, Sommer, Herbst, Winter, Vorfrühling, Spätsommer, Altweibersommer, Frühherbst, Spätherbst und Nachwinter oder ähnliche Komposita.
Es gibt eine Unzahl Wörter und Begriffe, die eindeutige Bezüge zur Jahreszeit herstellen und deshalb als Jahreszeitenwort gelten dürfen. - (Der Gedankenstrich besagt, dass der geneigte Leser verweilen und sich besinnend überfluten lassen möge. In Japan gibt es Wörterbücher, die Jahreszeitenwörter (kigo) gesammelt und deutend bereithalten.)
Beginnen wir, sozusagen zum Eingewöhnen, mit einigen ganz einfachen, unzweifelhaften und für alle Regionen gleichermaßen eindeutigen Wörtern, die von Jahreszeit und Natur, von Landschaft und Wetterbedingungen geprägt sind:
Schnee ist ein Wort für Winter, einschließlich seiner vielen Komposita, doch schon bei Schneematsch wird die Region maßgebend - in Norddeutschland Winter, in Süddeutschland vielleicht schon Frühling. Das Vogellied, der Nestbau gehören dem Frühling an, sollen aber Vogelbeobachtungen im Winter dargestellt werden, so werden Attribute notwendig wie die streitenden Amseln....die hungrigen Spatzen.
Das wogende Getreidefeld ist ein Sommerbild, in der auf Rentabilität hinarbeitenden Landwirtschaft ist das Stoppelfeld im Herbst kaum noch auffindbar. Trotzdem bleibt für unser Empfinden ein kalter Wind über Getreidestoppeln ein Herbstwind, ein traditionsgeprägter Topos. Wenn wir von der Obsternte sprechen, meinen wir Apfel, Birne, Pflaume, meinen wir den Herbst. Die Beerenernte gehört dagegen in den Sommer. Die einheitlichsten Herbstwörter sind Buntlaub und Blätterfall - doch was ist mit dem Eichenlaub? Es können durchaus noch Winterwinde im Eichenlaub rascheln.
Hier als Beispiel nun einige Haiku mit eindeutigen Jahreszeitenwörtern: (3)

Ein Kirschblütenzweig
aus meines Freundes Garten schmückt
jetzt mein Zimmer.
Rolf Boehm

Die weißen Rosen
erblüht - und ich noch immer
in Arbeitskleidung.
Sabine Sommerkamp

Leer sind die Stühle
rings um den Tisch im Garten.
Nur Blätter zu Gast.
Friedrich Rohde

Die Halbmondsichel
wetzt ihre blanke Schneide
am vereisten Turm.
Richard W. Heinrich

Die im Jahreszeitenwort vermittelte, wenn auch unausgesprochene Saison muss nicht zwingend mit der kalendarischen Einteilung übereinstimmen, aber sie muss eindeutig eine ästhetische Verbindung des menschlichen Fühlens und Empfindens mit ihren Gegebenheiten herstellen.
Solche Assoziationen sind auch von mancherlei Umständen beeinflusst. Einige davon seien hier, auch nur andeutungsweise, aufgeführt.


1.

Von Gestirnen und Wetterelementen bestimmte Jahreszeitenwörter

Beginnen wir mit den Gestirnen. Wenn in einem japanischen Haiku vom Vollmond die Rede ist, ist der Septembermond gemeint. In Deutschland kennen wir diese genaue Festlegung nicht. Der Mond kann nur dann Jahreszeitenwort sein, wenn wir ihm die entsprechenden Attribute beigeben: roter Mond meint den Sommer, kalter Mond den Winter. Einen Sommervollmond beschreibt das folgende Haiku von Imma von Bodmershof: (4)

Blendender Vollmond -
nur sein Licht auf den Wellen
schmerzt nicht das Auge.

In unseren Breiten sind August und September die Monate der Sternschnuppen, im Oktober zeigen sich die klarsten Sternbilder - so können Sternschnuppen und klarer Sternenhimmel für den Herbst stehen.
Sonnenglast und flimmernde Hitze sind Sommerwörter, die schönsten Sonnenuntergänge beobachten wir im Herbst. Letzteres unterliegt jedoch auch wieder regionalen Gegebenheiten. Mit dem Himmel verbunden sind die Wettererscheinungen: Stürme suchen uns im Herbst heim, der Wind bringt den Frühling, in der Nähe der Berge ist es der Föhn. Die Niederschläge sind nur bedingt zeitlich zu lokalisieren und sollten deshalb mit einem weiteren jahreszeitlichen Attribut versehen werden.
Schnee...... Eis und Rauhreif sind Wörter für den Winter, die schönsten Wolken zaubert die Sommerluft. Kurze Tage hat der Winter - lange Tage genießen wir im Sommer, Nebel steigen im Herbst, Tautropfen, Gewitter und Regenbogen bilden sich im Sommer, dessen Beginn die Sonnenwende festlegt.
Im Haiku-Beispiel von Sigrid Genzken-Dragendorff (5) beinhaltet das Wort Schnee die Jahreszeit. Alle anderen Bildsymbole könnten auch zu anderen Jahreszeiten gültig sein:

Wolken fallen ein.
Aus ihrer müden Schwere
näßt der Schnee das Land.


2.
Geographisch bedingte Jahreszeitenwörter

Bizarre Bergwelt
im rötlichen Sonnenlicht
Widerschein im See. (6)
Richard W. Heinrich

In diesem Haiku lässt die erste Zeile eine herbstliche Einordnung zu, da um diese Jahreszeit die Bergzacken besonders klar hervortreten. Das rötliche Sonnenlicht, nicht mehr blendend hell, ermöglicht die Spiegelung. Um aus geographischen Gegebenheiten auf die Jahreszeit schließen zu können, muss man mit ihnen vertraut sein. Hoher Wellengang ist besonders im Herbst und im Frühling zu beobachten, Mooreinsamkeit schließt den Sommer und den Herbst aus, ein Rinnsal sind Bergflüsse im Sommer, Sturzbäche zur Zeit der Schneeschmelze im Frühling. Farblose Seen hat der Winter und blühende Bergwiesen der Sommer. Von Rebhängen sprechen wir im Sommer oder Herbst von gemähten Wiesen im Sommer, von abgeernteten Feldern im Herbst.
An dieser Auswahl wird deutlich, dass geographische Aussagen als Jahreszeitenwort in den meisten Fällen ein näher umschreibendes Attribut erfordern.
Im folgenden Beispiel ist die Jahreszeit eindeutig mit einem einzigen, geographisch bedingten Wort ausgedrückt, Firnschnee = Frühling:

Drüben noch Firnschnee
hier öffnet sich weit dem Blau
die Wolkendecke (7)
Erica Lauer-Below


3.
Jahreszeitenwörter aus dem Bereich der Feste im Jahreskreis

Weihnachten und Neujahr als Winterworte, Ostern und Pfingsten als Bestimmungen für den Frühling brauchen nicht näher erläutert zu werden. In Deutschland haben jedoch viele Heiligengedenktage eine tiefgreifende, regional unterschiedliche Bedeutung. Mit ihnen sind feste Bräuche verknüpft, die wieder zunehmend ins Bewusstsein gelangen.
Einige der bekanntesten Beispiele mögen für die Fülle solcher feiertagsbezogenen Jahreszeitenwörter stehen:
Martinsgans (11. November), Hubertusjagd (3. November), Barbarazweige (4. Dezember), Karpfenessen (Silvester, 31. Dezember), Walpurgisnacht (25. Februar), Johannisfeuer (24. Juni), Michaelistag (29. September), Bittgang (Frühling), Prozession (Fronleichnam, Frühling), Kerzenlicht (Advent / Weihnachten - Winter).

Strömender Regen
und Sehnsucht nach Grablichtern.
Allerheiligen.
Conrad Miesen

Darüber hinaus gibt es die auf bestimmten traditionellen Überlieferungen fußenden Bräuche, die vielfach an den Ablauf des menschlichen Lebens gebunden, in den Jahreszeiten festgelegt sind:
Almauftrieb (Frühling), Almabtrieb (Herbst), Erntedank (Herbst), Fastnacht oder Karneval (Winter), Feldbegang (Sommer, vor der Ernte), Oktoberfest, die Aufzählung ließe sich noch beliebig fortsetzen.

Michaelistag
es regnet heute füttert
der Penner Schwäne (8)
Mario Fitterer

Wie ausgestoßen
der Bettler am Straßenrand
Vorweihnachtsrummel. (9)
Richard W. Heinrich

Steig nicht so hoch,
du bunter Kinderdrachen,
sonst raubt dich der Sturm.
Rüdiger Jung

Im Dreschflegeltakt
mahlen noch Mühlsteine
das kommende Brot.
Rüdiger Jung

Der Vorweihnachtsrummel, der sich in den Winteranfang einfügt, bedeutet zugleich eine Häufung von Assoziationen, von denen sich in diesem Gedicht nur ein Teilaspekt anrührend eröffnet. Das Gedicht von Rüdiger Jung greift einen alten Kinderbrauch auf, der nur auf den abgeernteten, leeren Feldern den ausreichenden Raum für seine Durchführung bietet, das Drachensteigenlassen. Im Zeitalter der ferngesteuerten Spielflugzeuge zugleich ein Zeug­nis für die Möglichkeit, Jahreszeitenbindungen alter Bräuche durch das Gedicht bewahren zu helfen. Das gilt auch für das zweite Gedicht von R. Jung.
An dieser Stelle sei bemerkt, dass die Verwendung von Saisonwörtern aus den Bereichen religiöser, volkskundlicher und heimatlicher Bezüge auch für die Haiku-Dichtung wichtig ist, da sie dadurch einen Beitrag zur Eigenständigkeit der deutschen Geschichte und Tradition liefert und sie vor dem Ver­gessen bewahrt. Man liest häufig, dass aus japanischen Haiku viel über Japan, seine Landschaften und über das Leben der Menschen zu erfahren ist. Unter diesem Aspekt kann auch das deutsche Kurzgedicht die unterschiedlichen Gegebenheiten der deutschen Landschaften darstellen und das Haiku so in allen Regionen beheimaten.


4.
Jahreszeitenwörter aus der Vogel- und Tierwelt

Spatzenlärm ums Haus
fernher vom Wald nur leise
tönt der Drossel Sang. (10)
Imma von Bodmershof

Dieses Beispiel mag für all die Gedichte stehen, in denen der Vogelsang, der Nestbau, die Vogelbrut Saisonwörter für den Frühling sind. Spat­zenlärm könnte auch für den Winter stehen, erst der Drossel Sang macht die Einordnung eindeutig.

Die weißen Reiher,
über den Altschnee segelnd,
warten aufs Mondlicht. (11)
Carl Heinz Kurz

Vogelschwärme ziehn
nach Süden - wir suchen noch
unsere Richtung (12)
Michael Groißmeier

Der Vogelzug ist ein bedeutendes Jahreszeitenwort für den Herbst. Das menschliche Empfinden verbindet, vor allem mit den Flugfiguren der großen Vögel wie Gänse, Schwäne und Störche, Wehmut, Sehnsucht nach fernen Ländern, Bedauern über das Vergehen des Sommers - das Vergehen des eigenen Lebens. Die Zielstrebigkeit und unbeirrbare Sicherheit lösen Bewunderung und Staunen aus.
Neben den Vögeln sind die Frösche, ihr Quaken, ihr plumpes Verhalten beliebte Assoziationswörter für den Frühling. Auch die Jungtiere begleiten uns durch diese Jahreszeit: Lämmer, Kitz, Kalb und Küken.
Die Insektenwelt bevölkert die Sommerhaiku:

Erster Leuchtkäfer
sogar bei kräftigem Wind
löscht sein Licht nicht aus. (13)
Michael Groißmeier

Schmetterlinge, Bienen, Hummeln, Wespen, Fliegen, Grillen, Libellen und Heuschrecken. Häufig übernehmen auch Fische, Schnecken, Eidechsen, Salamander und Vipern die Jahreszeitenbestimmung.
Die Spinnennetze hängen im Herbst zwischen Halmen und Zweigen der Nadelbäume. Eichhörnchen, Igel, Hase, Mäuse und Hamster sind im Herbst häufiger anzutreffen, auch Schafherden, die heim getrieben werden.

In Spinnennetzen
hängt das Schweigen der Fliegen
an hohen Gräsern (14)
Erica Lauer-Bel

Vor Fenstergittern
weben die Spinnen Netze.
Die Flucht muß scheitern. (15)
Ingo Cesaro

Im Winterhaiku finden wir das hungernde Tier als Ausdruck der Jahreszeit, das Reh, die Hasen und Kaninchen, die Standvögel. Das Futterhaus, die Futterraufe, der Streit um die Körner hängen damit zusammen. Im freien Feld fallen die Krähen auf - ihr schwarzes Gefieder und das krächzende Geschrei sind Ausdruck für Tod, Traurigkeit, Kälte und Einsamkeit.

Vom Sturm gebeutelt,
weicht der hungrige Falke
nur stärksten Böen. (16)
Margot Gabriel


5.
Jahreszeitenwörter aus der Blumen- und Pflanzenwelt

Die häufigsten Jahreszeitenwörter sind der uns direkt umgebenden Natur, der Pflanzenwelt, entnommen. Die meisten sind eindeutig, da wir Blütezeiten und Reifemonate kennen. Die frühblühenden Zwiebel- und Knollengewächse sind ersehnte Frühlingskünder. Die Kirschblüte wird in Deutschland ebenso beachtet und besungen wie in anderen Ländern. (Japan ausgeschlossen, da die Japaner einen wohl in der Welt einmaligen Bezug zur Kirschblüte haben.) Baumblüten, Baumdüfte und -farben sind die jedes Jahr aufs neue mit Staunen und Freude wahrgenommenen Zeichen des Frühlings.

Vom weißen Flieder
verschneit ist die Quelle -
selbst das Wasser duftet. (17)
Imma von Bodmershof

Dem deutschen Herz und Gemüt steht die Rose als Sommerblume am nächsten. Wiesen, Feldraine und Bauerngärten halten eine Vielzahl von Blumen und Kräutern bereit, deren Blüte- und Reifezeit in den Sommer fallen. Den Bemühungen der Naturfreunde ist es zu verdanken, dass die Fülle und Farbigkeit unserer wilden Flora wieder zunimmt.
Dem aufmerksam beobachtenden Dichter und Leser fällt auch das Geringste noch auf:

Gelbe Kamille
blüht einfach im Mauerriß
sieh wie er sich dehnt (18)
Erica Lauer-Below

Die Bäume in ihrem satten Grün werden zum Bild der Stärke und Kraft. Ihr Rauschen und ihr Schatten gehören dem Sommer an. Die wogenden Getreidefelder, die Grashalme, das flüsternde Schilf, all das spricht mit Sommerstimmen. Die große Anzahl der Haiku, die Jahreszeitenwörter des Herbstes enthalten, zeigt, dass der Mensch in dieser Zeit für die Veränderungen der Natur besonders empfänglich ist. Die Blumenpracht der Gärten weckt eher Wehmut und Traurigkeit, Astern und Chrysanthemen drücken Abschied und Endgültigkeit aus. Das Welklaub in seinen Farbnuancen bewundert, wird zum Sinnbild des Sterbens und Vergehens.
Pilze, Kastanien, Nüsse, Früchte von Bäumen und Sträuchern, Samen von Gräsern und Stauden sind herbstliche Saisonwörter.

Rot sinkt die Sonne -
am Strauch die Hagebutte
leuchtet samenschwer. (19)
Sabine Sommerkamp

Auf den Winter weisen die Christrose, der Weihnachtsstern und die im Januar blühende Zaubenuss (Hamamelis) hin. Nun sind es die kahlen Bäume, die nackten Zweige, oder die dunklen Nadelgehölze, die dem Dichter als Ersatzwörter zur Verfügung stehen. Gras und Schilf sind blass und verdorrt. Blumengeschenke gibt es zum Valentinstag (14. Februar).


6.
Haiku mit zwei oder mehr Jahreszeitenwörtern

Das Jahreszeitenwort ist nicht ablösbar vom konkreten Naturbild des Haiku, es ist die Basis des Bildes, seine Verankerung im Jahreslauf und in der emotionalen Gestimmtheit des Dichters und Lesers. Dadurch bedingt treten in manchen Haiku auch schon mal zwei oder mehr Jahreszeitenwörter auf. Sie sind berechtigt, wenn sie der Vervollkommnung des Bildes oder der näheren Bestimmung der Jahreszeit dienen.

Frühlingsbeginn: durch
brüchiges Eis stoßen grün
die Lanzen des Schilfs. (20)
Gerold Effert

Es besteht jedoch auch die Gefahr, daß sie zu einer bloßen Aufzählung werden:

Haselnußkätzchen.
Forsythiengelb leuchtet.
Oh Seidelbastduft! (21)
Hildegard Klopsch

oder zu einem Widerspruch führen:

Braune Nachtigall
betörend dein Gesang in
dieser dunklen Zeit. ( 22)
Theophil Krajewski

Die dunkle Zeit ist ein winterliches Wort, der Gesang der Nachtigall ertönt im Frühling. Der Dichter meint sicherlich die eigene Stimmung mit "dunkler Zeit", dafür wäre ein anderes Attribut zu "Zeit" klärender.


7.

Die Symbolik des Jahreszeitenwortes

Sicherlich sind die deutschen Jahreszeitenwörter nicht mit solch einheitlichen, traditionellen Symbolgehalten verbunden, wie das bei den japanischen kigo der Fall ist. Die emotionalen und existenziellen Gefühlswerte sind im Deutschen individueller, unterliegen stärker der Erlebnisfähigkeit, der Phantasie und Sensibilität des Einzelnen und sind nicht erlernbar. Eine bild- und gefühlsstarke Symbolik verbirgt sich jedoch auch in deutschen Jahreszeitenwörtern. Das im Einzelnen auszuführen, wäre es wert, besonders betrachtet zu werden. Hier seien nur einige Hinweise gegeben:
Mond - Gestirn der Nacht, von der Sonne angestrahlt, Symbol für jemanden, der sich durch die Leistung anderer großtut, oder der den Glanz anderer weitergibt - aber auch Freund der Liebenden, Gesprächspartner der Schlaflosen und Einsamen - Der Mann im Mond: Gestalt märchenhafter
und mythischer Ereignisse, wie auch Hexentanz, Elfentanz, bei Vollmond können die Tiere sprechen usw.
Kauz - Käuzchen Totenvogel: wenn das Käuzchen ruft, stirbt jemand ­ Inbegriff des Unheilverkünders.
Ei - Symbol des Frühlings, neuen Lebens, des Werdens im Verborgenen, aber auch Vollkommenheit der Form.

Dazu noch ein Abschlußhaiku von Imma von Bodmershof (23):

Schau mitten im Ei
klein und gelb eine Sonne ­
wie kam sie hinein?

 

Literatur und Quellenangaben:
1. Krusche, Dietrich (Hrsg.): Haiku. Tübingen: Erdmanns.1984. S.137/138
2. Marsch, Edgar (Hrsg.): Moderne deutsche Naturlyrik. Stuttgart:Reclam. 1980.
3. Kurz, Carl Heinz (Hrsg.): Weit noch ist mein Weg. Göttingen:Graphikum. 1986. o.S.
4. Bodmershof,Imma v.: Sonnenuhr. Bad Goisern: Neugebauer Press. 1970. S. 29
5. Genzken-Dragendorff, Sigrid: Der dunkle Bogen. Hannover:Moorburg. 1977. S. 63
6. Heinrich, Richard W.: Wenn die Schwalben ziehn... Heilbronn o.V. 1982 S. 161
7. Lauer-Below, Erica: Winziger Kiesel. Bad Wildungen: Siebenberg. 1986. S.31
8. vergl. Anm. 3
9. Heinrich, Richard W.: Sonnenwende. Heilbronn, o.V. 1984. S.256
10. Bodmershof, Imma v.: Im fremden Garten. Zürich: Arche. 1980. S.23
11. Buerschaper, Margret (Hrsg.) . Carl Heinz Kurz, ein deutscher Haijin. Göttingen: Graphikum. 1988. S. 22
12. Groißmeier, Michael: Zerblas ich den Löwenzahn. München: Schneekluth S. 53
13. ebd. S.34
14. vergl. Anm. 7, S. 45
15. Cesaro, Ingo: Der Goldfisch im Glas redet und redet. München: Bachmeier. 1981. S.39
16. vergl. Anm. 3
17. vergl. Anm. 4, S.16
18. vergl. Anm. 7, S. 45
19. vergl. Anm. 3
20. - 22. vergl. Anm. 3
23. vergl. Anm. 4, S 14